Ein geistig-kulturelles Zentrum

Christin Ruppio

1956 lobte die älteste katholische Gemeinde Duisburgs, die Pfarrgemeinde Liebfrauen, einen Wettbewerb für den Neubau ihrer im Zweiten Weltkrieg zerstörten Hauptkirche aus. Unter dem Vorsitz des Architekten Wilhelm Seidensticker entschied sich die Jury einstimmig für den Entwurf von Toni Hermanns (1915–2007; #Kirchenbauten im Ruhrgebiet und ihre Architekt:innen). Nur wenige Tage später, am 19. Dezember 1956, schlossen der Vatikan und das Land NRW einen Vertrag über die Einrichtung des Bistums Essen, das so genannte Ruhrbistum. So wurde der Neubau der Liebfrauenkirche auch zu einer Chance, den Gläubigen im Ruhrbistum ein Zeichen zu setzen.

Städtebauliches Ensemble

Von 1896 bis zu seiner Zerstörung 1942 war ein neugotischer Bau am Burgplatz inmitten der Altstadt Duisburgs die Hauptkirche der Liebfrauengemeinde gewesen. Anstatt einen Wiederaufbau an dieser Stelle zu vollziehen, beschloss die Gemeinde, einen Neubau am König-Heinrich-Platz im neuen Stadtzentrum unweit vom Hauptbahnhof anzustreben. Damit entschied sich die Gemeinde auch dagegen, den Turm ihrer Kirche wieder der vormaligen Stadtkrone mit Rathaus und Salvatorkirche hinzuzufügen. Stattdessen musste sich der Neubau am König-Heinrich-Platz in ein bereits bestehendes städtebauliches Ensemble aus Amtsgericht (1878/1912), Stadttheater (1912), Technischem Rathaus (1926) und Hotel Duisburger Hof (1927) einfügen. Ab 1962 lag dann auch die heute nicht mehr erhaltene Mercatorhalle (#Mercatorhalle) der Kirche direkt gegenüber. Nicht allein die erschwerte Situation in der verwüsteten und noch lange von Trümmern bestimmten Altstadt führte zu der Entscheidung, die Kirche an anderer Stelle neu zu bauen. Es handelte sich um eine programmatische Setzung: In unmittelbarer Nähe zu Kultur- und Verwaltungsgebäuden schrieb sich die traditionsgebundene Gemeinde sichtbar in das neue Zentrum und die kulturelle Gegenwart der Stadt ein.

Fassade und Kreuz

Eine von Süden über den Platz fotografierte Aufnahme auf einer Postkarte aus dem Bestand des Architekten Toni Hermanns im Baukunstarchiv zeigt das spannungsvolle Ensemble: der Portikus des wiederaufgebauten Theaters, die schlichte Architektur der Mercatorhalle am rechten und die Ostfassade der Liebfrauenkirche am linken Bildrand. Während diese künstlerisch gestaltete Ostfassade den Eingang anzeigt und prominent zum Platz hin positioniert wurde, liegt der Altarbereich – von außen weniger leicht erkennbar – im Westen. In der Fotografie fast verdeckt durch einen Baum, ist das Bauwerk durch das an der nördlichen Flanke der Turmscheibe angebrachte Kreuz doch sofort als Gotteshaus erkennbar. Eine undatierte Zeichnung des Architekten hebt diese ungewöhnliche Platzierung des Kreuzes mit einem Pfeil hervor. Darüber hinaus zeigt die Zeichnung Hermanns’ frühe Ideen für die künstlerische Gestaltung der Fassade: Gruppen menschlicher Umrisse lose über die Fläche verteilt.

Eingangsturm

Auch im Wettbewerbsmodell wird erkennbar, dass Hermanns die Idee eines »Eingangsturms« – wie er diesen Baukörper selbst im Erläuterungsbericht bezeichnet – mit seitlich angebrachtem Kreuz von vorneherein mitbrachte. Er umging so einen alles überragenden Turm, fand aber einen neuen Weg, den Bau in seiner Umgebung hervorzuheben. Die Platzierung des Kreuzes an dieser Stelle kennzeichnet den Ort als sakral aus der Fußgängerperspektive – wie die Postkarte zeigt – ebenso wie aus der Perspektive motorisierter Passant:innen. Eine Fotografie, die aufgrund der mit einem vorübergehenden Design verhangenen Fassade aus der Zeit vor 1965 stammen muss, zeigt den Blick von der Ecke Landfermannstraße/Neckarstraße. Während der Blick auf das seitlich herausragende Kreuz von den vorbeiführenden Straßen heute noch möglich ist, hat sich die auf der Postkarte eingefangene Situation mit freiem Blick über den König-Heinrich-Platz durch den Bau einer Tiefgarage stark verändert.

Materialmix

Zur Einweihung 1961 wurde die Liebfrauenkirche als »Duisburgs kühnstes Gotteshaus« betitelt. Bereits der Verzicht auf einen weithin sichtbaren Turm, das nach Westen hin leicht abfallende Flachdach des Mittelschiffes sowie das 1965 von dem Künstler Karl Heinz Türk gestaltete Relief »Moses und der brennende Dornbusch«, dessen Flammen aus rotem Naturstein einen Großteil der Ostfassade bestimmen, geben der Kirche eine durchaus »kühne« Anmutung. Betritt man den zweigeschossigen Sakralbau und folgt den Treppen hinauf in die Feierkirche, sind es vor allem die zwei monumentalen Fenster aus Plexiglas, die nach wie vor faszinieren. Zeichnungen und Modell aus dem Wettbewerb zeigen noch Schlitzfenster, die die vertikale Ausrichtung der Holzlamellen am Glockengeschoss aufgenommen hätten. Die ersten datierten Zeichnungen zu den Plexiglasfenstern stammen aus dem Jahr 1959. Der Materialmix aus den weißen, gefalteten Kunststofffenstern im Mittelschiff, den dunklen Sichtbetonwänden und den wellenartig angeordneten Holzpaneelen der Decke erzeugt eine unvergleichliche Raum- und Lichtwirkung (#Stahllamellen-Modellkirche) in der Feierkirche;. Die Anbetungskirche im unteren Geschoss zeichnet sich hingegen durch eine niedrige Deckenhöhe und nur spärlichen Lichteinfall aus, was eine wesentlich intimere Atmosphäre erzeugt.

Erhalt als Veranstaltungsort

Anfang der 2000er Jahre wurde die Liebfrauen-Gemeinde mit anderen Duisburger Gemeinden zusammengelegt, und man entschied sich gegen Toni Hermanns’ Bau als Hauptkirche. Damit verlor das Bauwerk seine Funktion, und es entbrannte eine Diskussion über den möglichen Erhalt (#Heilig-Kreuz-Kirche). Um den drohenden Abriss zu verhindern, gründete sich 2007 die »Stiftung Brennender Dornbusch«, welche den Erhalt als Kulturkirche sichern konnte. 2010 wurde die Oberkirche säkularisiert und dient seither als Veranstaltungsort, die untere Anbetungskirche ist weiterhin ein sakraler Raum. Leider waren es letztlich die vom Architekten als besonders zukunftsweisend erachteten Materialien, wie Plexiglas und Beton sowie die von der Gemeinde geforderte Natursteinverkleidung der Fassaden, die den Erhalt gefährdeten. Wie so häufig führte auch an diesem Bauwerk die Verbindung von Beton und Stahl (#Kirche St. Reinoldi) nach einigen Jahren zu deutlichen Schäden.

Neue Lösungen

Doch stellten vor allem die Schieferverkleidungen der Fassaden eine besondere Herausforderung dar. Nach und nach lösten sich die Platten aus ihren Verankerungen in der Schicht Porenbeton, die während des Baus zur Dämmung zwischen Schiefer und Stahlbeton gesetzt worden war, bis sie letztlich ganz entfernt werden mussten. Da eine Erneuerung der Schieferverkleidung aus Kostengründen außerhalb der Reichweite lag, suchten Eigentümer und Denkmalpflege zunächst nach neuen Lösungen. In diesem Zusammenhang wurde auch eine energetische Instandsetzung ins Auge gefasst und die Fondation Kybernetik der TU  Darmstadt hinzugezogen. Nach eingehender Analyse schlug diese vor, den vom Naturstein befreiten Bau mit einer transluzenten Hülle aus mehrschichtigen Polycarbonatplatten zu versehen, die solare Energie aufnehmen und in den Betonwänden speichern kann.

Denkmalpflege

2013 wurde dieser Vorschlag jedoch von der Denkmalpflege als unzulänglich bewertet. Insbesondere wurde bemängelt, dass das Fehlen des Natursteins eine Inszenierung als brutalistisches Bauwerk bewirke, die nie intendiert war. Darüber hinaus würde die gliedernde Wirkung der Schieferplatten bei einer Sichtbetonwand mit transluzenter Hülle gänzlich wegfallen und die Anmutung des Bauwerks somit zu stark verändert. Stattdessen setzte die Denkmalpflege weiterhin auf eine Erneuerung der Natursteinfassade, deren Anmutung auch mit günstigeren Materialien, wie Ton und Faserzement, nachgebildet werden könnte. Momentan werden Nord-, Ost- und Westfassade der Kulturkirche Liebfrauen von einer schützenden Schicht Spritzputz bestimmt. Oberhalb des Plexiglasfensters an der Nordfassade sind noch einige der originalen Schieferplatten erhalten, die durch ein Netz vor dem Herabfallen gesichert werden.

Ausstattung

Während das Äußere der Kulturkirche sich also durchaus drastisch verändert hat, stammen viele der Ausstattungsstücke im Inneren aus den Anfangstagen des Baus. Sie wurden teils aus dem Vorgängerbau in der Altstadt übernommen oder stammen aus der Vatikankirche der Weltausstellung in Brüssel 1958. Im Stadtarchiv Duisburg befindet sich eine Kopie der Chronik der Pfarrgemeinde Liebfrauen, die im Jahr 1958 eine genaue Auflistung aller übernommenen Objekte beinhaltet. Unter den 21 Positionen befinden sich die »Konstruktion des Baldachins in Bronze« – jener Baldachin, der bis heute den Altarraum der Feierkirche überspannt, – »Fenster der beiden Seiten« – die Buntglasfenster an den östlichen Stirnseiten der Seitenschiffe sowie »zwei Thronsessel« – jene Sessel, von denen einer noch heute den Altarraum der unteren Anbetungskirche schmückt. Anders als die allein auf Defiziten fußende Erklärung solcher Übernahmen über die Materialknappheit der Nachkriegszeit erzählt die Überführung von Teilen einer Weltausstellung auch von einer intendierten Öffnung der katholischen Kirche und einer selbstbewussten Repräsentation des Ruhrbistums.

»Herz der Gesamtanlage«

Die Expo 58 war für die BRD die erste Möglichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg, wieder als Mitglied der Weltgemeinschaft aufzutreten. Für den Vatikan war es die erste Teilnahme an einer Weltausstellung. Die Vatikankirche in Brüssel zeichnete sich durch einen Innenraum aus, der sich auf einen niederschwelligen Altar hin verjüngte. Auch Toni Hermanns befasste sich bereits um 1958 mit der kompletten Ausrichtung auf den Altar – eine Idee, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1962 kanonisch werden sollte. Hermanns schreibt dazu im Erläuterungsbericht: »Durch die fallende Raumdecke, durch den Wellenschlag der Deckengliederung und der gefalteten Fensterwände aus Plexiglas ist eine größtmögliche Ausrichtung des Raumes auf den Altar angestrebt.« Hermanns beschreibt weiter, dass auch die Wahl farbloser Glaswände und die ruhige Ordnung des Raumes alles auf das »Herz der Gesamtanlage« konzentriere und die Gemeinde sich so auf sich selbst besinnen könne.

Brennender Dornbusch

In der Geschichte des brennenden Dornbuschs, deren Darstellung die Eingangsfassade der Kirche bestimmt, offenbart sich Gott den Menschen: eine Geste der Öffnung. Und darüber hinaus eine Kennzeichnung der umgebenden Fläche als heilige Zone, in Anlehnung an den heiligen Berg auf dem der brennende Busch erscheint. In diesem Bild werden alle Passant:innen Zeug:innen der Offenbarung. Die monumentale Turmscheibe mit der niedrigen Eingangszone wirkt allerdings zunächst eher verschlossen. Allein das mit Holzlamellen verhangene Glockengeschoss und das filigrane Kreuz an der nördlichen Flanke lockern die Monumentalität dieser Fassade etwas auf. Hermanns selbst hob hervor, dass die verkehrsreiche Umgebung der Kirche einen deutlichen Übergangsbereich (#Arche-typische Refugien in einer dachlosen Welt) in eine eigene Sphäre notwendig mache.

Vom Platz ins Innere

Dennoch finden sich an dem Bau zahlreiche Hinwendungen zur Außenwelt. So holt zum Beispiel der Pflasterstein des Bodens im Eingangsbereich und in der Anbetungskirche die Anmutung eines Platzes im Freien in das Innere der Kirche. In einer Zeichnung aus dem Jahr 1961 hielt Hermanns diese Idee der Fortsetzung des Kleinpflasters vom Platz in das Innere fest. Auch das aufgeständerte nördliche Seitenschiff der Feierkirche – unter dem sich Passant:innen in ihren alltäglichen Abläufen bewegen – verzahnt den Bau in besonderer Weise mit dem Stadtraum. Es ist keine Öffnung, die direkte Durchsicht erwirkt, aber eine, die Verbundenheit mit der Umgebung repräsentiert.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Religion@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2021, S. 328–343.