Von Scharnhorst nach Assisi

Anna Kloke

Das Werkverzeichnis als Teil des Nachlasses von Mechtild Gastreich-Moritz (1924–1998) und Ulrich Gastreich (1922–1997) im Baukunstarchiv NRW dokumentiert (#Kirchenbauten im Ruhrgebiet und ihre Architekt:innen), dass das Dortmunder Architektenpaar bereits im Studium an der Technischen Hochschule München (1946–1951) erfolgreich im Team tätig war, als es 1951 gemeinsam den Studentenwettbewerb zum Bau eines Wohnheimes des AStA Bonn gewann. Im Laufe ihrer Berufsjahre entwickelten beide eine Architektursprache, die sich einmal recht formalistisch aus dem Spiel geometrischer Formen entwickelt und ein anderes Mal stark funktionalistisch vom Nutzer ausgehend gedacht ist. So leitet sich der Grundriss des Naturkundemuseums Dortmund (Planungszeit 1955–1975, Bauzeit 1978–1980, #Naturmuseum Dortmund) von den kristallinen Strukturen der im Museum ausgestellten Mineralien ab. Dem entgegengesetzt ist das ökumenische Gemeindezentrum Scharnhorst (Planungszeit 1968–1971, Bauzeit 1971–1974) der evangelischen Friedenskirchengemeinde und der katholischen Franziskus-Gemeinde, das sie gemeinsam mit Richard Riepe planten, vielmehr ein Gestalt gewordenes Raumprogramm: Der Lageplan des Zentrums im Maßstab 1:200 zeigt den Bau als eine Addition von Räumen verschiedenster, nach Funktion gestalteter und ineinander verschachtelter Grundrissformate, die im Halbkreis um eine Platzanlage angeordnet sind (#Profane städtebauliche Planung).

Kirche als Treffpunkt im Stadtteil

In der Mitte des Plans steht das Wort »Treffpunkt«, letztlich das Leitmotiv des Baus. Beide Konfessionen wollten für die über 17.000 zugezogenen Menschen der ab 1965 mehrheitlich als sozialer Wohnungsbau errichteten Großsiedlung Scharnhorst-Ost einen Ort der Begegnung und des Austausches schaffen. Sie erkannten die sozialen Nöte, die auch auf einen Mangel an gewachsener Infrastruktur in der Siedlung zurückzuführen waren, und stellten sich gemeinsam in den Dienst der Bewohner (#Dortmund-Scharnhorst und sein ökumenisches Zentrum).»Menschen aus der ganzen Bundesrepublik mit vielfachen Sorgen und Hoffnungen sind plötzlich Nachbarn geworden. […] Franziskus von Assisi, dessen Name und Auftrag sich unsere junge Vorstadtgemeinde verpflichtet weiß, war zu allen Menschen unterwegs […]. Sein Zeugnis für Jesus Christus möchte die Franziskus-Gemeinde in neuen Formen verwirklichen«, so die Verlautbarung in der Urkunde zur Grundsteinlegung des katholischen Teils des Gemeindezentrums.

Neue Formen

Diese »neuen Formen«, nutzerorientiert, bewusst auf repräsentative Gesten und ein traditionelles Kirchenarchitekturvokabular verzichtend, zeigt der Plan im Grundriss. Die blau angelegte Schraffierung markiert das Wegenetz, das sich als verbindendes Element über das mit begrünten Höfen campusartig angelegte Areal erstreckt. Wie dem Plan zu entnehmen, handelt es sich hierbei um eine frühe Entwurfsphase, in der das ökumenische Zentrum zwar schon räumlich nach Konfessionen getrennt, jedoch baulich noch miteinander verbunden war. Stand am Anfang des Planungsprozesses ein gemeinsam genutztes Zentrum, inklusive der Sakralräume, so wurden schließlich zwar kooperierende, jedoch baulich voneinander getrennte Zentren an einem gemeinsam genutzten Vorplatz realisiert. Heute läuft ein offener Fußgängerweg vom Vorplatz an den Kindergärten vorbei in Richtung Einkaufsstraße. Der äußeren Zweiteilung zum Trotz wurde das 1-2-geschossige Zentrum mit zumeist flachen Dächern und Kunstschieferfassaden einem ökumenischen Gedanken entsprechend bewusst einheitlich gestaltet. Nicht nur das Zentrum, sondern die gesamte, von der Wohnungsbaugesellschaft »Neue Heimat« als Antwort auf die herrschende Wohnungsnot gebaute Großsiedlung sollte »wegen der Größe und Bedeutung des Projektes« als Gestaltungseinheit wahrgenommen werden. Eine optische Verwischung der Fassaden des Gemeindezentrums mit der umliegenden Siedlungsbebauung verdeutlicht ein bauzeitliches Archivfoto. Lediglich der oktogonale Aufbau über dem Altarraum der katholischen Kirche sticht auf dem Bild hervor.

Diese Demonstration von Bürgernähe und fast schon demütiger Einfachheit lässt sich auch im Miteinander eines Gottesdienstes der Franziskus-Gemeinde, dokumentiert auf einer weiteren Aufnahme des Nachlasses, nachvollziehen. Der Priester steht im Zentrum der Gemeinde, die nicht in Bänken aufgereiht ihm gegenüber Platz nimmt, sondern teils auf Stühlen sitzend, teils auf dem Boden hockend um ihn herum versammelt ist. Der Altar mit einer einfachen Unterkonstruktion aus Kanthölzern ist zu diesem Zweck von allen Seiten gleich gestaltet. Auf den schalungsrauhen Wänden verkünden Schriftzüge in verschiedenen Sprachen die Botschaft »Christus ist auferstanden«. Die zeittypische Schriftart in Kombination mit dem Längsformat eines Banners erinnert an politische Kundgebungen der 1960er und 1970er Jahre und weist auf den Reformwillen der Zeit hin, in dessen Geist auch das Kirchenzentrum für die politisch aktiven Gemeinden beider Konfessionen gestaltet wurde, die sich an Friedensmärschen beteiligten und sich für eine medizinische Versorgung im Stadtteil einsetzten. Es galt, herrschenden Vorbehalten gegenüber der Institution Kirche mit einem neuen Formenvokabular entgegenzutreten. Hierzu diente auch eine konfektionierte Architektursprache mit einem sich wiederholendem Fassadenschema, die in weiten Teilen kaum zwischen Kirche, Einzelhandel, Verwaltung, Kulturinstitution oder Freizeiteinrichtung unterscheiden lässt. Zu erkennen ist dies auf grau schattierten Ansichtszeichnungen des Gemeindezentrums sowie des benachbarten »Zentrum Dortmund Scharnhorst« mit Einzelhandel, Schwimmbad, Gesamtschule und vielem mehr, für das die Werkgemeinschaft Gastreich, Gastreich-Moritz und Riepe ab 1968 einen Gutachterplan erstellte. Wie dem Planmaterial zu entnehmen, sollte das Gemeindezentrum auch im baulichen Erleben selbstverständlicher Bestandteil des Zentrums und der Siedlung werden.

Die Gaststätte

Zum offenen und bürgernahen Konzept der Gemeinden gehörten von Anfang an auch gastronomische Einrichtungen, die zwanglose Treffen als Fortsetzung des Gottesdienstes ermöglichen sollten. Noch heute teilen sich Gemeinde und Gaststätte ein Hinweisschild über dem Eingang, das bereits 1975 Teil der Planung war. Dieses Nebeneinanderstehen der Schriftzüge »Katholisches Franziskus Zentrum« und »Gaststätte Am Brunnen« verbunden durch das Logo einer lokalen Brauerei zeugen von einem Wunsch nach Bürgernähe fern jeglicher Berührungsängste. In den Räumen der Gaststätte setzte die Gemeinde der in weiten Teilen betont nüchternen Einfachheit und Schmucklosigkeit des Zen
trums eine gewisse Gasthausromantik entgegen, indem sie die Räume mit Fachwerk, einem historisch anmutenden Zimmerbrunnen und Wandmalereien ausschmückte. Wie auf dem Archivfoto zu erkennen, zeigen letztere bedeutende Bauwerke Assisis, der Geburtsstadt des Heiligen Franziskus.

Im Zuge einer Sanierung wurden die Wandmalereien ersetzt. Der gleiche Künstler, ein aktives Gemeindemitglied, entschied sich Jahrzehnte später wieder für eine Darstellung Assisis, diesmal wandfüllend. Man sieht den hoch gelegenen Vorplatz San Damianos, von dem ausgehend sich ein (frei zusammengesetztes) Panorama auf die Stadt Assisi erstreckt. Die Fensterbank des Schankraums der Franziskus-Gemeinde, die den Blick auf schmucklose Waschbetonfassaden freigibt, führt kontrastreich von Scharnhorst nach Assisi in die Brüstung des mittelitalienischen Konvents vor der spektakulären Kulisse der mittelalterlichen Stadt. Der Überlieferung nach betete Franziskus 1205 vor der verfallenen Kirche San Damiano, als Gott zu ihm sprach: »Gehe hin und baue meine Kirche wieder auf, die ganz zerfällt.« In Folge dieses und weiterer Erweckungserlebnisse setzte sich Franziskus für eine Erneuerung der Kirche ein und entschied sich für ein Leben in Einfachheit, gewidmet dem Dienst am Menschen. So dient die Darstellung San Damianos, auf dessen Vorplatz der Künstler zwei Menschen am Cafétisch gesetzt hat, nicht nur der Atmosphäre im Gastraum, sondern auch der Legitimation des Ortes.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Religion@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2021, S. 290–305.