Heim der offenen Tür

Sonja Pizonka

1953 erschien die Publikation »Jugendbauten unserer Zeit«. Die Herausgeber stellten kürzlich erbaute Kindertagesstätten, Kinderheime, Internate, Jugendwohnheime, Jugendheime und Jugendzentren aus dem In- und Ausland vor. Zu den berücksichtigten Jugendzentren gehörten unter anderem Bauten sowie Entwürfe von Otto Bartning, Jacob Berend Bakema, Alvar Aalto, Alfred Roth und Richard Neutra. Diese wurden als Beispiele für eine potenziell bedeutsame Bauaufgabe angesehen, da es in diesem Bereich bisher nur wenige Vorbilder gebe, sodass sich bei der Planung noch neue Bauformen entwickeln ließen.

Begegnung in eigenen Räumen

Die Herausgeber wiesen zudem darauf hin, dass Jugendzentren auch in der Kritik stünden: »Viele meinen, dass es nicht gut sei, die Jugend ausdrücklich durch eigene Häuser zu isolieren […]. Sie begründen ihre Auffassung damit, dass die innere Auflösung der Familienzelle ohnehin fortschreite und nicht noch dadurch unterstützt werden dürfe, daß man Kindern und Eltern in ihrer Freizeit getrennte Aufenthalte anbietet.« Befürworter der Jugendzentren (#Das Haus der jüdischen Jugend) sahen dagegen Potenzial für junge Menschen, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen. Um eine Begegnung in eigenen Räumen ohne Mitgliedschaft in einer Gruppe (darunter zum Beispiel Jugendgruppen der Gewerkschaften, Parteien, christliche Konfessionen) zu ermöglichen, gab es das Konzept des »Heimes der Offenen Tür«. Dazu hieß es in den 1953 gefassten Gautinger Beschlüssen: »Das Heim der Offenen Tür ist eine Freizeit- und Begegnungsstätte im freien Erziehungsraum und ergänzt die Erziehung im Elternhaus, in der Schule und im Beruf. Es dient der gesamten Jugend und muß allen täglich offen stehen.« Diese Beschlüsse hatten Unterausschuss-Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendvorsorge im oberbayerischen Gauting erarbeitet. Sie dienten als Definition des Begriffs »Heim der offenen Tür« und sollten Arbeitsgrundlage zur weiteren Entwicklung des Konzepts sein.

Heim der »halboffenen Tür«

Als am 8. Dezember 1958 der Jugendbund Neudeutschland ein eigenes Jugendzentrum in Dinslaken eröffnete, sollte es zunächst ein Heim der »halboffenen Tür« sein. Dies bedeutete, dass es auf dem Gelände sowohl Bereiche für Jugendliche ohne Mitgliedschaft als auch Räume eigens für die Mitglieder des Jugendbundes gab. Der Jugendbund Neudeutschland (ND) war 1919 als Teil der katholischen Jugendbewegung gegründet worden. In Dinslaken schloss sich 1926 eine ND-Gruppe zusammen. Im Nationalsozialismus verboten, gründeten sich die Gruppen in der Nachkriegszeit wieder neu; in Dinslaken fanden rund 80 Mitglieder zusammen.

Ein eigenständiges Jugendzentrum

Sie trafen sich zunächst in Räumen auf dem Gelände der damaligen Pestalozzischule (heute Gartenschule), diese mussten jedoch im Zuge einer Erweiterung der Schulbauten bald wieder aufgegeben werden. Deshalb wurde beschlossen, ein eigenständiges Jugendzentrum zu bauen. Dabei sollte die in der ND-Gruppe organisierte Jugend gemeinsam mit den Erwachsenen, die früher dem Jugendbund angehört hatten und jetzt im ND-Männerring waren, die Aktivitäten im Haus prägen. Rückblickend hieß es dazu: »Wir gingen dabei aus von dem Gedanken, daß die Jugendgruppe lernen sollte, über ihre eigenen Belange hinaus sich zu kümmern um die nicht-organisierten Jugendlichen, während die Erwachsenen ihre romantisch-verklärte Jugenderinnerung hinter sich lassen und die konkreten Aufgaben an der heutigen Jugend nach Maßgabe ihrer Freizeit wahrnehmen sollten.«

»Zelt« und »Atrium«

Der Architekt Heinz Buchmann (1930–2004) aus Dinslaken erarbeitete ab 1956 die Pläne für das Jugendzentrum. Die Lage des Baugeländes beschrieb er folgendermaßen: »Das Grundstück liegt im Westen des Dinslakener Stadtgebietes in einem mit Einfamilienhäusern guter Ausstattung locker bebauten oder noch zu bebauenden Gelände. Es schließt an einen den Rotbach begleitenden Grüngürtel an und hat über die Mozartbrücke und die Mozartstraße eine kurze Verbindung zum Gymnasium und zum Burgtheater (ca. 350 m). Ein Sportplatz befindet sich in 500 m Entfernung rotbachabwärts.« Damit war ein Gelände vorhanden, das günstig in einer innenstadtnahen Wohnsiedlung zwischen Schule und Sportplatz lag. Buchmann entwickelte ein Konzept mit zwei separaten Bauten. Das sogenannte »Zelt«, ein Gebäude unter einem fast auf den Boden reichenden Satteldach, sollte der Gruppenarbeit dienen. Das benachbarte Bungalowgebäude »Atrium« war mit Werkräumen, Bibliothek und Diskussionsraum als Haus der offenen Tür vorgesehen.

Heim der »Ganz-offenen Tür«

In Dinslaken dauerte es nur wenige Jahre, bis sich die ursprüngliche Trennung in Gruppenräume und frei zugängliche Bereiche als obsolet erwies. Aloys Angenendt, Initiator und erster Leiter des ND-Jugendzentrums, erinnerte sich 1968: »Das ND-Jugendzentrum wurde mehr und mehr ein Treffpunkt der nichtorganisierten Jugendlichen aus der Stadt und aus dem Kreisgebiet. Der Stamm der Heimbesucher wuchs schnell von 200 über 400 und 600 bis 800 Jugendlichen. Die Räume, die für die organisierte Jugend vorgesehen waren, mußten jetzt auch für die vielfältigen Wünsche und Bedürfnisse der Nichtorganisierten zur Verfügung gestellt werden. So wurde aus dem Heim der Halb-Offenen-Tür ein Heim der Ganz-Offenen-Tür.« Die ND-Gruppe, die sich regelmäßig im Zelt getroffen hatte, löste sich 1966 auf, andere organisierte Gruppen bestanden jedoch weiter. Angenendt erklärte dies so: »Die Bereitschaft der Jugendlichen, sich in einer Gruppe als Lebens- und Gesinnungsgemeinschaft für lange Zeit fest zu binden, wurde im Laufe der Jahre immer geringer, während die Neigung, sich mit Gleichaltrigen für kurze Zeit zur Erreichung eines konkreten Zieles zusammenzuschließen, auffallend zunahm.«

Erweiterung

Das Jugendzentrum gewann dabei mehr und mehr an Beliebtheit, und die Verantwortlichen waren durchaus bereit, bei der geplanten Erweiterung auf die Wünsche der Jungen und Mädchen zu reagieren. In den bestehenden Gebäuden waren es insbesondere die Aufenthaltsräume für das lockere Beisammensein sowie die Werkräume im Atrium, die großen Zuspruch erhielten. Deshalb erklärte Heinz Buchmann: »Das führte zur Erweiterung des Atriums und zur Angliederung einer der suchenden Unruhe der Jugend entsprechenden bewegten Baugruppe mit Bar, Jugendcafé, einer Halle als Raum der Begegnung sowie Sport- und Gemeinschaftsräumen.« Buchmann führte sein Konzept einer Architektur mit möglichst vielen, locker miteinander verbundenen Bereichen für unterschiedliche Nutzungen fort. Im Erdgeschoss hatte er einen großen Aufenthaltsbereich und im Keller Werk- und Sporträume geplant. Auf einem Grundriss des Kellergeschosses sind zum Beispiel Bereiche für Film, Fotografie, Buchbinden und Papierarbeiten sowie Sportarten wie Boxen, Ringen, Tischtennis eingezeichnet.

Milchbar und Sternwarte

Pläne für eine Milchbar fragte der Architekt zudem bei der Firma Karl Mann KG in Hildesheim an, die Theken für den damals populären Ausschank nicht-alkoholischer Getränke anfertigte. Mit der Eröffnung des Erweiterungsbaus 1965 gab es fortan nicht nur mehr Platz für die jungen Besucher:innen, auch die Amateur-Astronomen aus Dinslaken und Umgebung konnten jetzt die ebenfalls neu eingeweihte Sternwarte nutzen, deren Kuppel die Bauten des Jugendzentrums überragte. Mit dieser Erweiterung war das Grundstück am Rotbach nun fast vollständig bebaut. Anders als bei vielen anderen Einrichtungen für Jungen und Mädchen war es beim ND-Jugendzentrum gelungen, ein neues, von vornherein auf die vorgesehene Nutzung geplantes Gebäudeensemble zu errichten. Der Eindruck, sich in einem Provisorium zu treffen, blieb den Jugendlichen in Dinslaken erspart. Ihnen standen, auch als Zeichen der Wertschätzung und Anerkennung, eigene Räume (#Ideen für das Museumszentrum Essen) zur Verfügung. In einer Untersuchung zu Jugendzentren wurde die Wichtigkeit dieses Aspekts betont: »Man kann kaum erwarten, daß sich Jugendliche auf die Dauer in einem ›Heim‹ wohlfühlen, das einer ›Katakombe‹, einem ›Wartesaal‹ gleicht oder eine ›windschiefe Bretterbude‹ darstellt.«

Besucher aus Dinslaken, Walsum, Voerde und Hünxe

Das »Haus der offenen Tür« war in Dinslaken ein Erfolg. 1968 kamen pro Tag durchschnittlich 432 Jugendliche, an schulfreien Tagen waren es manchmal fast 700. Die Besucherstatistik für dieses Jahr ergab folgende Werte: »Evangelisch 49,50 %, katholisch 46,5 %, sonstige 4%. Von den Besuchern waren 1968 70 % Jungen und 30 % Mädchen. Die Besucher kamen aus dem ganzen Kreis: 70% aus Dinslaken, 21% aus Walsum, 8% aus Voerde und 1% aus Hünxe. Über die Hälfte der Jungen und Mädchen sind Kinder aus Familien der Arbeiter und Handwerker.« Dabei kam die Architektur mit ihrer Vielzahl an Räumen den Bedürfnissen der jungen Besucher:innen nach Begegnungs- und Rückzugsbereichen besonders entgegen; gleichzeitig bot sie Platz für ein vielfältiges Veranstaltungsprogramm. Beliebt waren etwa im Jahr 1969 Forumsgespräche mit den Titeln »Rebellierende Jugend« und »Jugend in der Alkohol- und Rauschgiftwelle«. Tanzpartys im kleinen Kreis, Cafénachmittage, und Jugendgottesdienst fanden ebenfalls Anklang.

Beliebte Angebote, neue Formate

Zu den für das Jahr 1970 angekündigten Neuerungen gehörten Nachhilfe in Mathematik und Deutsch sowie Englischkurse und ein Kurs in »Experimenteller Grafik«. Beliebte Angebote wurden beibehalten und immer wieder durch neue Formate ergänzt. Heinz Buchmann, der auch Mitglied des Fördervereins war, blieb dem ND-Jugendzentrum jahrelang verbunden und begleitete verschiedene Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen. In Dinslaken und Umgebung plante er noch weitere Gebäude, unter anderem Schulbauten, Wohnheime und Schwimmbäder. Darüber hinaus entwarf Buchmann die Kirchen Heilig Geist (1963) und Heilig Blut (1965) (#Kirche Heilig Blut) in Dinslaken sowie zusammen mit dem Bildhauer Josef Rikus die Kirche Johannes XIII. (1969) in Köln.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Bildung@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2022, S. 86–99.