Reichtum des Raumerlebnisses

Christin Ruppio

 »Und doch soll das geistlich-geistige Zentrum der Gemeinde auch sichtbar ausgezeichnet sein inmitten seiner Umbauung, durch schlichte Sinnfälligkeit und Verinnerlichung.«

Das einleitende Zitat stammt aus dem Erläuterungsbericht, den der Architekt Heinz Buchmann seinem Wettbewerbsbeitrag zum Bau der heute nicht mehr erhaltenen Kirche Heilig Blut in Dinslaken beifügte. Buchmann hatte für dieselbe Gemeinde bereits die Heilig Geist-Kirche (1961) im Dinslakener Stadtteil Hiesfeld verwirklicht und gewann mit seinem abwechslungsreichen Raumkonzept auch den Wettbewerb um Heilig Blut (1965) im Stadtteil Bruch. Im Erläuterungsbericht beschreibt Buchmann die Grundlagen für seinen Entwurf einer Kirche, die sich – im Sinne eines Gemeindezentrums (#Dortmund-Scharnhorst und sein ökumenisches Zentrum) – in einen wachsenden Stadtteil einfügt und als dessen Teil wirkt, innerhalb dieser Umgebung aber auch als besonderer Ort hervorgehoben werden soll. Erschlossen durch eine Hauptverkehrsader und nördlich an die Dinslakener Innenstadt grenzend, entwickelte sich der Stadtteil Bruch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg rasant. Da die katholische Gemeinde stetig wuchs, begann man bereits 1953 mit den Planungen einer eigenen Kirche für den Stadtteil, die aber erst 1965 verwirklicht werden konnten.

Kirchturm

»Der äußersten Einfachheit in der Materialwahl soll der Reichtum des Raumerlebnisses […] entsprechen«, konstatiert Buchmann im Erläuterungsbericht und hebt hier zwei Hauptmerkmale des Baus hervor. Die Fassaden der Kirche waren durch einen Materialmix aus Ziegeln und Beton bestimmt, wobei Ziegel die Außenansicht zur Straße hin dominierten, da Campanile und Umgebungsmauer zum Großteil aus diesem Material bestanden. Durch die Anwendung von Flachdächern scheinen sich das erhöhte Hauptschiff und der südlich daran angrenzende Querarm mit Blick von der Straße kaum von der Umgebung abgehoben zu haben. Erst der Campanile, der an der süd-westlichen Ecke des Grundstücks als Teil der Umgebungsmauer den Zugang zum Innenhof anzeigte, machte die Kirche weithin sichtbar. Buchmann entschied sich jedoch gegen einen massiven Turm, indem er vier frei stehende Mauern mit weiten Durchgängen dazwischen anordnete und diese erst im oberen Viertel durch das Glockengeschoss verband. Bereits einige Jahre zuvor beim Bau der Heilig Geist-Kirche hatte Buchmann die Idee eines weniger monumentalen Turms mit Gitterelementen aus Stahlbeton erprobt und diese Anmutung für Heilig Blut weiterentwickelt.

Markante Altarwand

Im Inneren weist die Kirche hingegen Gestaltungsmerkmale auf, die Buchmann erst einige Jahre später mit dem Bau von St. Johannes XXIII. (1969) in Köln voll ausschöpfen sollte. Gemeinsam mit dem Bildhauer Josef Rikus entwickelte Buchmann in Köln eine Raumskulptur aus Beton, die heute unter Denkmalschutz steht. Doch bereits in Dinslaken kooperierte Buchmann mit einem Künstler – Waldemar Kuhn –, um Beton als plastisches Gestaltungselement einzubringen und eine markante Altarwand zu verwirklichen. Kuhn wies darauf hin, dass die Wand »nicht auf dem Reißbrett mit Winkelmaß und Lineal konstruiert, sondern gemessen mit Elle und Fuß des Menschen« sei; also eine am menschlichen Maß orientiert Raumskulptur.

Abstufungen

Vergleicht man Fotografien, auf denen die Umgebungsmauer zu sehen ist, mit dem Wettbewerbsmodell, wird deutlich, dass die Mauer wesentlich niedriger umgesetzt wurde. Im Modell endet sie erst direkt unterhalb der Dachzone; in der letztlichen Umsetzung war sie gerade hoch genug, dass Passant:innen nicht in den Hof blicken konnten. Über den Innenhof schreibt Buchmann: »Das ›Paradies‹, welches wir durch den Turm betreten wollen, ist schon Teil des Hauses Gottes, umgeben von einer Mauer, die ein großes Quadrum umschließt, welches durch einen Glasvorhang geteilt sein soll in den äußeren und inneren Bezirk.« Innen und Außen der Kirche waren von Abstufungen geprägt. Von der Straße aus gesehen schirmten Turm und Mauern das Paradies – also den Innenhof – ab und gewährten doch einen ersten Blick auf die Flachdachbauten mit ihren kunstvoll gestalteten Fenstern. Am westlichen Rand des Hofes lud eine Tür dazu ein, in das Innerste einzutreten, am östlichen Rand gewährte die an den rechten Winkel zwischen Hauptschiff und Querarm angesetzte Taufkapelle einen ersten Blick hinein.

Paradies

Auf dem Hof spiegelte sich die sakramentale Bedeutung des Elements Wasser in einem die Kapelle umgebenden Becken. Die Einbindung von Pflanzen und Wasser rekurrierte auch auf die Vorstellung eines irdischen Garten Eden. Dabei ist das Paradies im christlichen Glauben nicht allein ein durch die Sünde verloren gegangener Ort, sondern ebenso ein zukünftiger – am Ende aller Zeit – und einer, dessen Lokalisierung in der eigenen Gegenwart über Jahrhunderte angestrebt wurde. Diese vielfachen Lesarten des Begriffes Paradies laden seine Einbindung als architektonisches Element in diesen innovativen Sakralbau mit besonderer Bedeutung auf. Gleichzeitig bietet der Innenhof ganz praktisch eine Zone des Übergangs zwischen dem urbanen Raum unmittelbar an einer Hauptverkehrsader und einem Ort der Einkehr (#Arche-typische Refugien in einer dachlosen Welt). Buchmann schließt seine Beschreibung der architektonischen Verzahnung von innerem und äußerem Bezirk wie folgt: »Ein großer, auf den Altar bezogener Raum […].« Diese Wirkung eines zwar unterteilten aber zusammengehörigen Raumes erzielte Buchmann auch dadurch, dass die untere Fensterzone des Hauptschiffs nicht mit Buntglas, sondern mit Fensterglas versehen wurde – ein direkter Durchblick war möglich (#Stahllamellen-Modellkirche). Durch die niedrige Umgrenzung und den offen gestalteten Campanile setzte sich diese abgestufte Öffnung auch in den öffentlichen Raum um die Kirche fort.

Sogwirkung Richtung Altar

Im Bestand des Architekten findet sich ein Ausschnitt aus einer Broschüre, die zur Einweihung der Kirche erschien und in der der Pfarrer der St. Vincentius-Gemeinde auf die Bedeutung des Namens »Heilig Blut« eingeht. Er schreibt: »Wasser und Blut deuten hin auf die beiden Grundsakramente Taufe und Eucharistie. […] Die Heilig Blut-Kirche gibt daher dem Altar und dem Taufbrunnen eine beherrschende Stellung.« Diese Ausrichtung des Raumgefüges hielt Buchmann bereits in seinem Erläuterungsbericht fest: »Kern des Raumes ist der schwere dunkle Altar vor der hell beleuchteten plastischen Ostwand. Er ist vorgerückt bis fast in den Schnittpunkt der Raumachsen und nur wenig über den Boden des Planums erhoben. Zum Altar sind alle Raumglieder in Beziehung gesetzt.« Auf dem Grundriss lässt sich diese Ausrichtung ebenso gut nachvollziehen wie anhand einer Fotografie, die den Blick aus dem Eingangsbereich zur Altarwand zeigt. Für Eintretende entstand durch die plastisch gestaltete Ostwand, aber auch durch die niedrige Deckenhöhe und die Wiederaufnahme des Mittelgangs durch die Deckenbeleuchtung eine Sogwirkung in Richtung Altar.

Helles Tageslicht

Der südlich an den Altarbereich angrenzende Querarm war ebenfalls mit Bankreihen ausgestattet, die auf den Altar ausgerichtet waren. An der östlichen Wand dieses Raumes befand sich ein Kreuzweg mit zwölf aus Stein gearbeiteten Relieftafeln des Künstlers Joseph Krautwald. Da der Querarm etwas niedriger als das Hauptschiff gesetzt war, konnte durch eine ebenfalls mit durchsichtigem Glas versehene Fensterzone helles Tageslicht in den Altarbereich fallen. Die Mittelzonen der Verglasung an der Südfassade des Hauptschiffs sowie das gesamte Fenster in der süd-östlichen Ecke des Altarraums waren mit Buntglasfenstern von Joachim Klos versehen, die heute von der Stiftung Forschungsstelle Glasmalerei des 20.  Jahrhunderts bewahrt werden. Neben dieser deutlichen Ausrichtung auf den Hauptaltar schuf Buchmann aber auch Räume für die individuelle Andacht und Einkehr. Den in der Ausschreibung geforderten Nebenaltar sowie einen Ort der Beichte brachte Buchmann im niedrigeren nördlichen Seitenschiff unter.

Kindertagesstätte

Die Heilig Blut-Kirche wurde 2009 mit der Begründung finanzieller Engpässe abgerissen. An derselben Stelle wurde eine Kindertagesstätte errichtet, in deren Wänden Steine der ehemaligen Kirche verbaut wurden. Im angebundenen Pfarrheim feiert die Gemeinde weiterhin zweimal in der Woche die Heilige Messe. Wenngleich der Bau nicht erhalten werden konnte, so lebt seine Innenausstattung doch in Partnergemeinden in Rumänien und Afrika weiter. Zehn Jahre nach dem Abriss erhielt das Gemeindezentrum einen neuen Glockenturm, der – wenn auch in wesentlich kleineren Dimensionen – Heinz Buchmanns Entwurf nachempfunden ist.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Religion@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2021, S. 214–225.