Zwischen tausend Plateaus

Christos Stremmenos

Sichtet man den Bestand zum Kunstmuseum Gelsenkirchen aus dem Nachlass des Architekten Albrecht Egon Wittig im Baukunstarchiv NRW, so findet sich eine für die späten 1970er und frühen 1980er Jahre zeittypische Überlieferung: mit Folien in Mustern und Farben angelegte Tuscheentwurfszeichnungen, auf feinem Transparentpapier oder kleinen Papierfetzen skizzenhaft festgehaltene große Würfe und kleine Verrücktheiten, eine rege Korrespondenz, die ihre Polyphonie in schreibmaschinengeschriebenen Schriftstücken entfaltet, zahlreiche Fotoserien, die der Architekt zu unterschiedlichen Zeiten aufnimmt, um die Entstehung seines Museums in den Jahren 1982–1984 im Zentrum des Stadtteils Buer in Gelsenkirchen zu dokumentieren.

»Schwarzer Kasten Museum«

Es ist eine Überlieferung in hauptsächlich manuell erzeugten Medien, die durch ihre haptische Wirkung Präsenz erlangen und von einer Epoche erzählen, kurz bevor das Digitale Einzug in die Architekturproduktionsmittel und das Entwerfen fand. Inmitten dieses materiellen Vermächtnisses stößt man auf eine zunächst unscheinbar anmutende Schachtel, die der Architekt auf ihrer Deckelinnenseite mit der Aufschrift »Schwarzer Kasten Museum« versehen hat.

Beim Öffnen der aus schwarz durchgefärbtem Karton hergestellten Schachtel eröffnet sich ein bemerkenswertes Konvolut, ein Archiv im Archiv: diverse Fotos und Fotoserien, zu Präsentationszwecken vorgenommene Verkleinerungen von Entwurfszeichnungen, montageartig zusammengesetzte Präsentationsmappen, Listen von Museumsbauten der Moderne, die wahrscheinlich während des Entwurfsprozesses als Inspiration dienten, zahlreiche aus Tageszeitungen und Zeitschriften minutiös ausgeschnittene Artikel, welche die Resonanz in den Medien der Zeit abbilden.

Es ist kein systematisch angelegtes Archiv, das Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Eine derartige Konsequenz verfolgt der Architekt im konventionellen Ablegen seiner Zeichnungen und Akten. Was hier angelegt wurde, ist mehr ein Zeugnis des Sammelns, Reflektierens und Dokumentierens, aber auch der Inspiration und Zerstreuung über das eigene Projekt. Es ist eine Verdichtung von Dingen, die eher den Wert des Exzeptionellen aufweisen und die der Autor vermutlich mit unterschiedlichen Motivationen und Fundstücken kontinuierlich erweiterte. Diese beim ersten Blick vermeintlich erratische Zusammensetzung des Schachtelinhalts verlangt nach physischer Ausbreitung, um Wirkung und Struktur zu entfalten.

Gefordert es kein Lesen im konventionellen Sinne. Der Inhalt der Schachtel kennt keinen Anfang, kein Ende, kein erstes und kein letztes Objekt, keine erste Seite, keine letzte; es sind zunächst keine Hierarchie und kein Gerüst erkennbar, welche die unterschiedlichen Informationsebenen zusammenhalten.

Mehrdeutigkeiten

In dieser Mehrdeutigkeit eines vermeintlich abschirmenden Äußeren der schwarzen Schachtel und eines sich in mehreren Schichten entfaltenden Inneren, kann auch der »Schwarze Kasten Museum«, den Wittig in Gelsenkirchen realisiert, interpretiert werden. Nähert man sich dem Museumsbau auf der Horster Straße, einer Hauptader des Stadtteils Buer, begegnet man, wie die kurz vor der Eröffnung des Hauses entstandene Schwarzweiß-Fotografie  zeigt, einer vordergründig tiefdunklen verschachtelten hybriden Figur, die sich zunächst unförmig in den Stadtraum einzugliedern scheint. Die metallisch dunkle Anmutung ist der aus Kupferprofilbahnen zusammengesetzten Fassadenfläche geschuldet. Der Architekt entschied sich bewusst für dieses Material, altert es doch im Gegensatz zu Beton »mit Anstand«, wie er 1984 in einer Sonderausgabe der »Buersche Zeitung« zur Eröffnung des Museums bekundete. Dass – bei den Eigenschaften des gewählten Fassadenmaterials Kupfer – ein sich über die Jahre natürlich vollziehender Verdunklungsprozess einem würdevollem Altern gleichkommt, das mit einem Rotbraun beginnend – stufenweise das Haus in ein tiefdunkles Anthrazit überführte, legt die Vermutung einer forcierten Verwandlung des Hauses in einen »Schwarzen Kasten Museum« nahe; vielleicht auch nur eine unterbewusste Intention des Entwerfers.

Diese Lesart zielt auf den Kontrast zur 1893 erbauten, strahlend weiß verputzten Villa Pöppinghaus, an die der dunkle Bau anschließt. Dieses gründerzeitliche Haus beherbergte ab 1957 bis zur Eröffnung des lange diskutierten und von der Bürgerschaft geforderten Erweiterungsbaus 1984 die »Städtische Kunstsammlung Gelsenkirchen« (#Die Tradition der Kulturbauten). Durch einen städtebaulichen Rücksprung des neuen Baukörpers wird gemeinsam mit dem historischen Gebäude ein Vorhof räumlich definiert, der mit Brunnen und vorgeschalteten Stufen eine einladende Geste von der Straße zum Museum eröffnet.

Eine in Plateaus aufgefächerte Welt

Transparente, in schwarze Rahmen gefasste Einschnitte in die dunkle verschachtelte Figur eröffnen den Passanten beiläufige Einblicke aus dem geschäftigen Stadtraum in die Welt der Kunst und geben einen ersten Eindruck von der Komplexität des »Schwarzen Kasten Museum«. Betritt man schließlich den schwarzen Kasten durch die transparente Öffnung, die im Außenraum die Eingangssituation sichtbar zu erkennen gibt, offenbart sich den Besucherinnen und Besuchern im Inneren eine auf mehrere Plateaus aufgefächerte Welt, die zum Wandeln auf Galerien und Treppen einlädt.

Wie man auf den beiden Schnittzeichnungen erkennen kann, entwirft Wittig im Inneren einen komplexen Wegraum, gleich einem Parcours durch das Haus, mit räumlich verspringenden Plateaus und Galerieebenen, die über Treppen miteinander verbunden sind: Korridorkonstruktionen.

Jedes Plateau wird zu einer kleinen Abteilung der Sammlung. Dieses räumliche Gefüge der Präsentation auf verschiedenen Ebenen im Raum eröffnet Möglichkeiten, stiftet regelrecht dazu an, Sammlungsstücke nicht isoliert, sondern stets in ein mannigfaltiges Geflecht von Beziehungslinien zu anderen Werken, Plateaus, Einblicken in ein Gegenüber und Ausblicken in die Stadt zu setzen (#Über die Architektur von Kunstmuseen).

Kein singuläres Bild vermag es, dieses hybride Raumgefüge in seiner Gänze zu erfassen und zweidimensional abzubilden. Einige Beispiele an Kampagnen, die der Architekt oder die Stadt unternehmen, finden sich als Fotoserien im Nachlass von Wittig, die den Weg durch sein Haus auf mehreren Aufnahmen zu dokumentieren versuchen.

Dekonstruierte »Korridorräume«

Auf einer dieser Schwarzweiß-Aufnahmen begegnen wir auf dem höchsten Plateau des Museums einem Ölbild Gerhard Richters, welches uns in einen ganz anderen Erfahrungsraum hineinblicken lässt. In seinem 1964 entstandenen Werk »Korridor« thematisiert der Künstler einen streng linear-zentralperspektivisch angelegten Raum, der kaum gegensätzlicher sein könnte als der multiperspektivische Raum, in welchem er hier in Gelsenkirchen präsentiert wird: ein gänzlich auf seine Funktion beschränkter Erschließungsraum, von weißen Wänden begrenzter und streng axial angelegter Korridor. Der menschenleere und in grellem Licht erleuchtete Gang, der hier in dieser Präsentationsweise wie in die Ausstellungswand eingegraben scheint, versetzt uns in bemerkenswerter Art und Weise außer Raum und Zeit. Der mangelnde Ausblick am Ende des Ganges und die fehlenden Durchblicke an den Seitenwänden unterstreichen die Perspektivlosigkeit der Situation. Es ist kein Raum der Verschwendung, in den wir hier hineinblicken; es ist viel eher ein Raum, der die Bewegungs- und Handlungsfreiheit des Menschen auf ein Minimum beschränkt.

Aus heutiger Sicht mag es verwundern, doch dieser karge perspektivlose, jede Kommunikation einschränkende Wegraum, der seinen Ursprung im Militärischen und den monastischen Bauten des Mittelalters hat und im Absolutismus in großangelegten Anlagen breite Verwendung fand, erhielt im 19. Jahrhundert nicht nur einen triumphalen Einzug als Erschließungs- und Ordnungssystem in die Architektur der Zeit, sondern avancierte gar zum Raum der Moderne, wie Stephan Trüby in seinem Werk zur »Geschichte des Korridors« beschreibt. Der Korridor wurde zur räumlichen Manifestation einer sich der Aufklärung verpflichteten Moderne, die in der disziplinierenden Wirkung ihrer Korridore einem Erziehungsauftrag nachging, mit der Maßgabe, jegliche Verbreitung ansteckender Krankheiten, Verhaltensweisen oder Ideologien zu unterbinden. In Gängen und Korridoren dieser Art kanalisierte sich ein Fortschrittsglaube, der in lenkender Weise nach einer Verbesserung des Menschen innerhalb der Normen einer neuen bürgerlichen Gesellschaft trachtete.

Als »materiellen Arm« des »Kafkaesken« umschreibt Trüby die Flure und Korridore Kafkas, die durch einen unsichtbaren, aber stets präsenten bürokratischen Apparat durchdrungen werden und die der Autor in seinen Romanen als immer wiederkehrendes Motiv zu einem »kontinuierlichen Parcours des Unheimlichen« stilisiert.

Befinden sich die begrenzenden Wände in Kafkas Gängen in einer Auflösungsstufe, die einer Perforation gleichkommt, so haben wir es hier in Wittigs Konzeption für das Kunstmuseum mit einem aufgespaltenen, gar dekonstruierten »Korridorraum« zu tun. Seine Begrenzungswände wurden zu großen Teilen aufgelöst und im Raum auf verschiedenen Höhen verteilt, die als Versatzstücke entlang des Weges wieder auftauchen und abwechslungsreiche Raumfolgen formen. Wie bei Kafka sehen wir uns in einen Parcours versetzt, allerdings nicht in einen des Unheimlichen, sondern einen des Erlebbaren und Aufschließenden.

Zwischen Plateaus

Im Gegensatz zu einem baumartig, genealogisch hierarchisch strukturierten Wissenschaftsmodell propagieren Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Werk »Tausend Plateaus« eine Methode des rhizomartigen Zugangs zum Wissen. Das baumartige Modell generiert Wissen über Reproduktions- und Teilungsprozesse und repräsentiert mit seinen binären dichotomischen Eigenschaften »eine Logik der Kopie und der Reproduktion«, die immer auf einen Hauptstamm und die Wurzel zurückzuführen sind. Es ist eher ein geschlossenes System, das keinen Zugang in ein Mittendrin erlaubt.

Ein Rhizom hingegen ist aus Plateaus komponiert, die sich ausbreiten und verräumlichen. Ein Rhizom ist »eine Karte und keine Kopie«. Der Zugang zur materiellen und immateriellen Welt ist in einem Dazwischen – zwischen Plateaus – zu suchen und in Gefügen eines Mittendrins zu detektieren. Von jedem Plateau lassen sich Linien zu anderen Plateaus ziehen, die im Raum imaginären transversalen Strängen und Korridoren gleichkommen und die wiederum auf andere Plateaus verweisen. Die rhizomhafte Art des Lesens kennt keinen Anfang und kein Ende; sie kennt nur plateauartige Zu- und Ausgänge in ein Dazwischen.

Doch Deleuze und Guattari meinen wohl keinen vermeintlich vereinfachenden Dualismus in Form von Kopie versus Karte. Im Gegenteil, sie erkennen im Einen stets auch das Andere. Eine ähnliche Deutung lässt sich auch in der Konzeption Wittigs erkennen. Der Korridor, der als Wegraumtypologie in unzähligen Gebäuden als Kopie in Variationen wiederzufinden ist, erfährt in Gelsenkirchen durch plateauartige Auffaltungen eine Überführung ins Kartografische. Das Museum wird selbst zur Karte eines aus Plateaus zusammengesetzten Topos, der zu Aneignungsstrategien in räumlichen Gefügen anstiftet, indem man immer wieder von Neuem imaginäre transversale Korridore zwischen den Dingen zu ziehen vermag. Fügt man zu den Verschränkungen auf den Plateaus die Perspektiven, welche sich durch die auf ihnen präsentierten Kunstwerke eröffnen und die wiederkehrenden Ausblicke in die Stadt hinzu, dann bewegt man sich hier im Inneren des Gelsenkirchener »Schwarzen Kasten Museum« wahrlich zwischen Tausend Plateaus.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): »Und so etwas steht in Gelsenkirchen…«, Kultur@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2020, S. 118–133.