Zentrum und Stadtteil

Sonja Pizonka

1959 veröffentlichten der Kölner Dombaumeister Willy Weyres und der Architekt Otto Bartning das »Handbuch für den Kirchenbau«. Neue Kirchen, schrieben sie, würden künftig zumeist in den Stadtteilen gebaut: »Altstädtische Citygemeinden dagegen kommen meist mit den vorhandenen Kirchen aus, zumal ihr Bevölkerungsanteil oft kleiner geworden ist oder kleiner werden wird. Deshalb wird die Aufgabe, neue Hauptkirchen im Stadtzentrum zu errichten, zukünftig verhältnismäßig selten zu lösen sein. Wohl aber sind immer noch manche älteren Kirchen wiederaufzubauen, instandzusetzen oder neuen Erfordernissen anzupassen. Das ist dann aber meist ein Vorgang, der die Außenerscheinung des Bauwerks kaum wandelt.« Auch in Essen stellte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Frage, wie mit den beschädigten Kirchenbauten in der Innenstadt (#Profane städtebauliche Planung) umzugehen sei.

Zentrale Freifläche

Während die zentral gelegenen Sakralbauten Münster und Marktkirche wieder instand gesetzt wurden, entschied man sich bei der ebenfalls in der Nähe befindlichen evangelischen Pauluskirche (geweiht 1872) aufgrund der geringen Anzahl der Gemeindemitglieder gegen einen Wiederaufbau. Das zerstörte Kirchenschiff wurde abgetragen, der erhaltene Turm blieb zunächst stehen. Das nähere Umfeld, das vor dem Krieg dicht bebaut gewesen war, erfuhr im Zuge des Wiederaufbaus eine umfassende Veränderung. Es entstand eine zentral gelegene Freifläche, der Gildenplatz (seit 1963 Kennedyplatz) und eine darauf ausgerichtete neue Bebauung, die US-amerikanischen Bildungseinrichtung Amerikahaus (1952) und die neuen mehrgeschossigen Bürobauten Heroldhaus (1955), Gildenhaus (1955) und Allbauhaus (1956). Über diesem neuen Platz erhob sich weiterhin, ein wenig abgerückt, der Kirchturm der ehemaligen Pauluskirche. Im September 1958 wurde der Turm gesprengt; das Grundstück sollte mit einem mindestens achtgeschossigen Gebäude bebaut werden.

Hochhaus

1959 erfolgte ein beschränkter Architektenwettbewerb mit dem Ziel, einen Verwaltungsbau für die evangelische Kirche zu errichten. In diesem Haus sollten unter anderem der Gesamtverband der evangelischen Kirchengemeinde – Schulreferat, Jugendpfarramt, Jugend- und Synodalbibliothek, Eheberatungsstelle, Diakonisches Werk, Sozialreferat, Hilfswerk sowie Kirchensteueramt – untergebracht werden. Mehrere Säle für diverse Veranstaltungen waren ebenfalls vorgesehen. Den Wettbewerb für dieses Haus der evangelischen Kirche gewannen die Architekten Heinz Kalenborn und Wolfgang Müller-Zantop, die zuvor schon gemeinsam die evangelische Markuskirche sowie das dazugehörige Gemeindezentrum in Essen-Frohnhausen entworfen hatten (Bauzeit 1958–1960).

1962 wollte das Amt für Wirtschafts- und Verkehrsförderung der Stadt Essen einen ersten Eindruck der künftigen Bebauung vermitteln. In der vom Amt herausgegebenen Publikation »Essen – Soziale Gross-Stadt von morgen« ist eine gezeichnete Perspektive des Gebäudes zu finden, die allerdings nicht von den Architekten selbst stammt. Es ist gut zu erkennen, dass das geplante Hochhaus – wie einst der Kirchturm – seine Umgebung deutlich überragt.

An die City gebunden

Als Erklärung für den Bau in die Höhe wurde vermerkt: »Hierbei [beim Wiederaufbau der Innenstadt] wurden neue Freiräume ausgespart, Straßen verbreitert und Parkplätze geschaffen. Kein Wunder, daß die Grundstücke knapp wurden und sich die gerade in diesem Raum erforderlichen Verwaltungs- und Geschäftsbauten dicht zusammendrängen oder in die Höhe wachsen mußten. Wenn auch viele Organisationen und Unternehmungen in die ›Verwaltungsstadt‹ südlich des Hauptbahnhofs auswichen, so blieben doch manche Bauten an die City gebunden.« Dazu zählten neben dem Haus der evangelischen Kirche auch der schräg gegenüber liegende Neubau der Industrie- und Handelskammer. Die Kirche zeigte sich an dieser Stelle also nicht länger mit einem Sakralbau als Institution des Glaubens; vielmehr präsentierte sie sich, umgeben von weiteren Bürobauten, mit ihrem 45 Meter hohen Bauwerk wie ein Unternehmen mit einer zentralisierten Verwaltung am neu entstandenen Platz mitten in der Großstadt.

Vorhangfassade und Denkmalschutz

Kalenborn und Müller-Zantop hatten ein zwölfgeschossiges Gebäude  mit Vorhangfassade und H-förmigem Grundriss, umgeben von drei Pavillonbauten, entworfen. In diesen Pavillons befanden sich unter anderem Versammlungsräume, die nach der Fertigstellung des Gebäudes 1964 für öffentliche Veranstaltungen genutzt wurden. Im größten Saal, einem fensterlosen Raum mit freier Bestuhlung, der sich im westlich gelegenen Pavillon befand, wurde ein Werk von Ferdinand Spindel installiert, einem der Gruppe ZERO nahestehenden Künstler aus Gelsenkirchen. Spindel versah dafür zwei gegenüberliegende Wände mit konkav gewölbten Betonelementen, die durch eine eigens eingerichtete Beleuchtung betont wurden (#Kirche St. Nicolai; #Kirche Heilig Blut). Heute wird das Gebäude nicht mehr von der evangelischen Kirche genutzt. Es wurde 2008 unter Denkmalschutz gestellt und 2009 durch Böll Architekten in Zusammenarbeit mit Wolfgang Müller-Zantop und Patrick Bayer saniert und umgebaut. Unter dem Namen Kennedy Tower wird es nun als frei vermieteter Bürobau genutzt. Die Institution Haus der evangelischen Kirche blieb auch nach dem Auszug bestehen und befindet sich jetzt, nur wenige Häuser entfernt, im ehemaligen Gebäude des Finanzamts Essen-Nord.

Stadtteilkirche

Im Stadtzentrum war ein Sakralbau aufgegeben und durch ein Bürogebäude ersetzt worden; Angebote für die Gemeinde und eine interessierte Öffentlichkeit machten das Haus dennoch zu einem Treffpunkt (#Dortmund-Scharnhorst und sein ökumenisches Zentrum). Auch bei den Stadtteilkirchen stellte sich die Frage, welche Nutzungen über den Gottesdienst hinaus in einem Bau der Kirche möglich sein sollten. In Essen-Holsterhausen entschied man sich für den Bau des Melanchthon-Gemeindezentrums mit Kirchenraum, Gemeindesaal, Clubraum, Konfirmandenbereich, weiteren Gruppenräumen und Wohnungen. Das Gemeindezentrum hatte einen berühmten Vorgängerbau, die im Krieg zerstörte Stahlkirche  (#Die Essener Kirchenbauausstellung von 1929 im Kontext) von Otto Bartning, welche 1928 auf der Messe »Pressa« in Köln als Beispiel für modernen evangelischen Kirchenbau errichtet worden war. Von vornherein hatte die Idee bestanden, die Stahlkirche nach Ende der Ausstellung abzubauen und einer Gemeinde als Sakralbau zur Verfügung zu stellen. Sie wurde 1931 nach Holsterhausen umgesetzt und als Melanchthon-Kirche in Betrieb genommen. Nachdem der Bau bei einem Bombenangriff 1942 ausgebrannt war, wurden die Trümmer des Stahlgerüsts abgebaut. Der unter der Kirche befindliche Gemeindesaal wurde umgebaut und diente in den Folgejahren als Notkirche.

Mehrgeschossiges Gemeindezentrum

Anfang der 1960er erfolgte schließlich der Beschluss, das Grundstück für ein Gemeindezentrum mit neuem Kirchenbau, Gemeinderäumen und Wohnungen zu nutzen. Den ausgeschriebenen Wettbewerb gewann 1964 der Duisburger Architekt Peter Voigtländer (#Kirchenbauten im Ruhrgebiet und ihre Architekt:innen). Im Baukunstarchiv NRW sind dazu Vorentwürfe, Wettbewerbsunterlagen und erste Pläne nach der Auftragsvergabe vorhanden. Da Voigtländer 1965 mit nur 37 Jahren bei einem Autounfall starb, liegen weitere Pläne nicht vor. Wie schon bei der Stahlkirche von Otto Bartning sah auch Voigtländers Entwurf einen Kirchenraum im Obergeschoss und einen Gemeindesaal im Untergeschoss vor. Diese Idee leitete sich jedoch nicht nur vom Vorgängerbau ab, vielmehr hatte Voigtländer vergleichbare Konzepte, damals noch in Zusammenarbeit mit Heido Stumpf, bereits zum Beispiel bei der evangelischen Kirche Möllen in Voerde angewendet. Aufgrund seiner Entwürfe für Stadthallen und Kirchen hatte er Erfahrung im Umgang mit umfangreichen Raumprogrammen auf begrenzten Grundstücken; bei diesem Projekt nutzte er das Gefälle zwischen Holsterhauser Straße und Melanchthonstraße, um ein mehrgeschossiges Gemeindezentrum in den von Verkehrswegen umfassten Baugrund einzupassen.

Der Architekt konzipierte ein Bauwerk mit zahlreichen Räumen für die Gemeindearbeit auf drei Ebenen und achtete auch darauf, das Gebäude vor dem Lärm der Straße zu schützen. So notierte er im Erläuterungsbericht: »Der die Gemeinde versammelnde Vorplatz ist in einen umschlossenen, gegenüber dem Verkehrsknotenpunkt abgeschirmten und durch einige Stufen erhöhten Bezirk gerückt, womit er auch der Sammlung der Gemeinde dient.« Bei der Gestaltung der Fassade experimentierte Voigtländer mit verschiedenen Mustern und Formen.

Wie eine Insel

Das Melanchthon-Gemeindezentrum wurde schließlich 1970–1972 nach Plänen der Architekten Jörg-D. Ohm und Hans-Joachim Thielke gebaut. In den Grundzügen ist Voigtländers Entwurf im fertigen Bau noch erkennbar. Auch die Idee einer Fassadengestaltung mit geometrischem Muster wurde beibehalten – so war es der Künstler Otto Herbert Hajek, der dem 1972 eröffneten Gemeindezentrum die markante Farbgebung des Glockenträgers in Rot, Gelb und Blau verlieh und den durch Mauern geschützten Platz vor dem Kirchsaal mit dem Kunstwerk »Begegnen« gestaltete (#Kirche Heilig Blut; #Haus der Bibliotheken). Zur Wirkung des Gebäudes, das an einer verkehrsreichen Straßenkreuzung im dicht bebauten Stadtteil zwischen Schulen, Klinikum und Einzelhandelsgeschäften liegt, erklärte die Gemeinde: »Das Gebäude besteht aus Baukörpern unterschiedlicher Höhe und prägt durch seinen eigenwilligen, geometrisch funktionalen Stil den Holsterhauser Platz. Es hebt sich dadurch von der Wohnbebauung der Umgebung ab – wie eine Insel.«

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Religion@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2021, S. 262–273.