Zwischen Plätzen

Christin Ruppio, Christos Stremmenos

Der Hansaplatz in Dortmund ist der größte öffentliche Platz innerhalb des durch die ehemaligen mittelalterlichen Wallanlagen definierten historischen Stadtzentrums. Diese heutzutage stadträumlich erfahrbare Großzügigkeit des Ortes ist einem Transformationsprozess geschuldet, der mit Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte. Der historische Marktplatz der Hansestadt – der angrenzende Alte Markt – wurde für die expandierenden Handelstätigkeiten zu klein. 1903 verlagerten als erste die Fleischhändler ihre Stände auf Flächen des heutigen Hansaplatzes, welcher erst durch sukzessives Abreißen und Abtragen eines historisch gewachsenen Quartiers entstand. Der hauptsächlich durch die Anforderungen des Handels eingeleitete, in mehreren Etappen vollzogene Stadtumbau hatte nicht nur den Verlust historisch gewachsener Substanz zur Folge, sondern ging mit einer Begradigung der verwinkelten Straßen- und Platzkanten des historischen Stadtgrundrisses einher.

Hauptmarkt der Stadt

Die Erstellung mehrgeschossiger Gebäude – wie die 1906 fertiggestellte National-Bank auf dem Eckgrundstück Wißstraße/Brauhausstraße oder der 1912 realisierte Erweiterungsbau des Kaufhauses Althoff – führten entlang des neuen großzügig gezogenen Platzperimeters den Maßstab des Großstädtischen ein. Die im Zuge dieses Transformationsprozesses sich ausweitende Freifläche bot Raum für Markttätigkeiten, die sich letztendlich vom Alten Markt auf den neu entstandenen Platz verlagerten. Somit definiert der Hansaplatz nicht nur den größten innerstädtischen Platz, sondern beherbergt seitdem den Hauptmarkt der Stadt.

Doch diese zwei wichtigen städtischen Plätze sind nicht nur durch die Verlagerung der Hauptmarktaktivität verbunden. Auch das Nadelöhr, am Übergang vom einen Platz zum anderen, erfuhr im Zuge des Stadtumbaus eine bauliche Akzentuierung und verband die zwei Orte mit Institutionen von stadtübergreifender Relevanz.

Mittlerin zwischen zwei Plätzen

Das rechts neben dem Alten Rathaus Dortmunds 1908 durch Stadtbaurat Kullrich realisierte monumentale historistische Bauwerk an der Ecke Alter Markt/Hansastraße beherbergte im Erdgeschoss die Stadtsparkasse. In die neu erbauten Räume des Obergeschosses zog – zusammen mit der Volksbücherei Mitte – die bereits 1907 gegründete Bibliothek ein. Für fast ein Jahrhundert sollte die Geschichte der Stadtbibliothek mit der Geschichte des Ortes als Mittlerin zwischen den zwei Plätzen eng verwoben sein. Das ehemalige Stadtsparkassengebäude wurde mit Auszug der Bank 1924 gänzlich der Bibliotheksnutzung überlassen. Die Bibliothek konnte von nun an als Institution auch mit einem prägnanten baulichen Repräsentanten in Verbindung gebracht werden. Das steinerne Bauwerk hat allerdings die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs – so wie viele andere umliegende Bauten – nicht überdauert. Mit ihm ist ein umfänglicher Buchbestand unwiederbringlich verloren gegangen.

Neuer zentraler Bibliotheksbau

Die Wiederaufbauplanungen nach den schweren Kriegszerstörungen im Zweiten Weltkrieg setzten vornehmlich auf die in der Vorkriegszeit gezogenen Konturen der Stadterneuerung. Zu den Akteuren der Wiederaufbauzeit zählt der Architekt Walter Höltje, der bereits zwischen 1948 und 1950 maßgeblich an der umfassenden Neuplanung für die Dortmunder Innenstadt beteiligt war. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde auch daran gearbeitet, neue Buchbestände zusammenzutragen und auf einen neuen, zentralen Bibliotheksbau hinzudenken. Durch die Auslobung eines Wettbewerbs für ein neues Bibliotheksbauwerk konkretisierten sich 1954 diese Pläne. Walter Höltje und Karl Walter Schulze belegten den ersten sowie zweiten Platz und realisierten das Gebäude zwischen 1956 und 1958 gemeinsam.

Geschichte des Ortes

Wenngleich Höltje später angab, sich nicht an früheren Entwürfen für die Stadterneuerung orientiert zu haben, lassen sich Ideen aus der Zeit zwischen 1914 und 1930 gleichwohl in den Wiederaufbau- und Umbauplänen der Zeit nach 1945 nachvollziehen. So entstand auch das Haus der Bibliotheken am ehemaligen Standort der Stadtbibliothek an der Mündung der beiden Plätze Alter Markt und Hansaplatz und verweist somit auf die Geschichte des Ortes vor dem Zweiten Weltkrieg. Ein undatiertes Blatt im Nachlass Walter Höltjes zeigt drei Ansichten des Gebäudes: oben die Westfassade zum Hansaplatz mit geschlossenem Magazinteil und verglastem Freihandbereich, unten links die Nordfassade dominiert vom dreigeschossigen, aufgeständerten Verwaltungsbau und unten rechts die Südfassade.

Öffnung zum Hansaplatz

Höltje und Schulze setzten in ihrem Entwurf vor allem auf die Wirkung des langen Riegels, der zum einen als Mittler zwischen den zwei Plätzen fungierte und zum anderen am Hansaplatz die Hauptfassade des Gebäudekomplexes entfaltete. Die Ansicht vom Hansaplatz aus sollte sich auch als stärkstes im Stadtgedächtnis eingeprägtes Bild der Bibliothek erweisen: ein langer horizontal gegliederter mit einem Fliesenmosaik versehener massiver Riegel, aus dem auf Höhe des Platzes über die gesamte Gebäudelänge ein vitrinenartiger Glaskörper herausragt. Der Wechsel von massiven und transparenten Baukörpern lässt sich aus der Nutzung des Hauses ableiten: Während die geschlossenen Teile vor allem die konservatorisch angemessene Bewahrung der Buchbestände im Magazin gewährleisteten, sorgte insbesondere der verglaste Freihandbereich mit Leseplätzen für eine Öffnung zum Hansaplatz und einen lichtdurchfluteten Aufenthaltsort.

Zweiteilung des Gebäudes

Höltje und Schulze setzten jedoch nicht nur auf die Erzeugung dieses prägnanten Bildes. Sie versuchten darüber hinaus mit einer komplexen Gebäudestruktur auf die einzelnen städtebaulichen Situationen einzugehen und an den einzelnen Stadtkanten, die sie überbauten, Adressen zu schaffen. Der Grundriss des Erdgeschosses lässt die Zweiteilung des Gebäudes gut erkennen. Der vom Hansaplatz scheinbar durchgängige Glaskörper ist in seinem Inneren zweigeteilt. Ein Knickpunkt an der Glasfassade deutete die Teilung des Hauses in dezenter Weise an. Auf der Nordseite war die Volksbücherei angesiedelt, während sich auf der Südseite die Stadt- und Landesbibliothek befand.

Zwei Bibliotheken

Die Zweiteilung erforderte auch zwei getrennte Zugänge zu den beiden Bibliotheken, die jeweils Adressen an den zwei benachbarten Plätzen schufen: die Volksbücherei mit eigenem Zugang vom Alten Markt; die Stadt- und Landesbibliothek erschlossen über die Freitreppe angeordnet neben der »Glasvitrine« am Hansaplatz. Neben diesen beiden Bibliotheken nahm das Haus auch das Westfälisch-Niederrheinische Institut für Zeitungsforschung sowie die zu allen drei Institutionen gehörigen Verwaltungsorgane auf. In die durch die beiden Gebäuderiegel abgegrenzte innere Hofsituation kragten zudem die Lesesäle der beiden Bibliotheken. Diese in freierer Form aus der Orthogonalität des Hauptriegels heraustretenden transparenten Bereiche boten ruhige Arbeitsplätze mit Blick in einen begrünten Innenhof.

In den auf Transparentpapier mit Bleistift gezeichneten Wandabwicklungen ist die Intention der Architekten, einen möglichst offenen und transparenten über zwei Ebenen sich erstreckenden Freihandbereich zu gestalten, deutlich ablesbar.

Fliesenbild

Einrichtungsgegenstände wie Bücherregale, mit Architektenleuchten versehene Tische und dreibeinige Drehhocker wirken in ihrer funktionalen Schlichtheit und der leichten, den menschlichen Maßstab berücksichtigenden Bauweise wie Mobiliar des Alltäglichen und erzeugen eine Atmosphäre des zeitgenössisch Wohnlichen.

Die Monumentalität des siebengeschossigen Magazinteils wurde zum Hansaplatz hin darüber hinaus durch ein Fliesenmosaik des Künstlers Klaus Gerwin aufgelockert. Zwar nimmt auch das Mosaik durch seine konstruktivistische Komposition die Strenge und Klarheit des Bauwerks auf, doch lädt es durch dezente Farbakzente und Größenvarianz in den geometrischen Formen dazu ein, das Auge über die Fassade wandern zu lassen, anstatt vor einer geschlossenen Fläche gleichsam zu erstarren. Zwar bestimmte das Fliesenbild das charakteristische Gesicht des Bauwerks, doch sorgte es seit den 1980er Jahren zugleich dafür, dass das Gebäude zunehmend zur Diskussion gestellt wurde, da man ihm den Verfall deutlich ansah.

Wiederentdeckung

Auch der das Bauwerk hofierende Hansaplatz verlor nach dem autogerechten Stadtumbau Dortmunds in den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend an Attraktivität. Der größte innerstädtische Platz verwandelte sich zur größten Stellfläche für parkende Automobile innerhalb des historischen Zentrums. Das Versprechen des Platzes, Aufenthalts- und Handlungsorte des fußläufig Zugänglichen zu generieren, wich einer Begeisterung der automobilen Erschließung städtischer Orte. Die extensive Parkplatznutzung ließ den Platz in den 1980er Jahren wie segregiert von der ihn räumlich definierenden Bebauung wirken. Die transparente Geste des Hauses der Bibliotheken blickte auf ein Meer von Automobilen.

Der fortschreitende Verfall der Fassaden wurde durch eine aufwendige Restaurierung des Hauses zwischen 1988 und 1990 durch die Architekt:innen Harald Meißner und Nicola Fortmann-Drühe behoben. Doch das Planer:innenduo rettete mit der Instandsetzung nicht nur das Gesicht des Hauses. Es trug auch zur Reaktivierung und Wiederentdeckung des Hansaplatzes bei.

Urbane Raster

In ihrem 1987 eingereichten und 1991 realisierten Wettbewerbsbeitrag zum Umbau des Hansaplatzes erkannten sie die missliche Lage des Ortes und die Vernachlässigung seines öffentlichen Charakters. Ihr Entwurf sah die Rückgewinnung des Platzes für die Flanierenden und die Verlagerung der Parkfunktion in den Untergrund vor. Ein städtischer Teppich wurde über den weitläufigen Stadtraum bis zu den platzfassenden Stadthäusern ausgelegt, um die Segregate wieder zusammenführen. Unter Anwendung zweier sich überlagernder gepflasterter Rasterstrukturen wurde zudem der Versuch unternommen, die Orte durch den steinernen Teppich. geometrisch zu verweben. So orientiert sich das Hauptraster an der durch den oben beschriebenen Transformationsprozess zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgehobenen Rechtwinkligkeit des Hansaplatzes; ein zweites über den Platz gelegtes dezenter formuliertes Raster mit gleicher Maschengröße wirkt wie aus dem Hauptraster herausgedreht und bezieht sich auf verwinkelte historische Stadtkanten wie die in den Platz mündende Wißstraße oder das seinerzeit rautenförmige Pflaster des Alten Marktes.

Farbpalette

Die Bezugnahme auf den Ort wurde zudem auch an anderer Stelle sichtbar. Meißner und Fortmann-Drühe akzentuierten die Bedeutung der Bibliothek für den Platz. Mit farbigen, scheibenartigen Elementen, die sie auf dem Platz verorteten und die sich auf die Flächenkomposition Gerwins bezogen, schufen sie nicht nur eine Gliederung der Weitläufigkeit und organisierten Aufenthaltsorte, sondern inszenierten damit die Zugänge zur Tiefgarage auf spielerische Weise. Die auf dem Platz versetzt positionierten farbigen Scheiben wirkten, als seien sie aus dem Fliesenmosaik der Bibliotheksfassade herausgelöst, um sich auf dem Platz zu verräumlichen. Durch Verwendung der gleichen Farbpalette wurde dieser Eindruck intensiviert. Kolonnaden in der Dimension des transparenten in den öffentlichen Raum hineinragenden Lesesaals deuten zudem eine Torsituation vom Hansaplatz zum Alten Markt an und zitieren in postmoderner Manier die historische Verwebung der beiden Orte.

Neue Anforderungen

Zu seiner Entstehungszeit wurde das Haus der Bibliotheken in Fachzeitschriften gelobt, da es besonders gelungen die praktischen Ansprüche einer Bibliothek und die Repräsentation des demokratischen Nachkriegsdeutschlands vereinte, doch mit der Zeit änderten sich die Ansprüche. Das Haus der Bibliotheken wurde zu klein für die neuen Anforderungen, und die bauliche Struktur erschwerte Installationen, die für einen modernen Bibliotheksbetrieb nötig wurden. Mit zunehmender Ansiedlung wissenschaftlicher Bibliotheken im Ruhrgebiet, fielen die landesbibliothekarischen Aufgaben weg, und auch Rationalisierungen infolge von Sparmaßnahmen führten letztlich zu dem Entschluss, Volksbücherei und Stadt- und Landesbibliothek zusammenzulegen und in einem neuen Bau am Hauptbahnhof einen modernen Bibliotheksbetrieb zu etablieren.

Abriss

Eine Umnutzung stellte sich als schwierig heraus, da das Haus der Bibliotheken auf die sehr spezifischen Ansprüche des Bibliothekbetriebs ausgerichtet war und zum Beispiel die Bücherregale tragende Teile der Konstruktion darstellten. Fast vierzig Jahre lang war das Haus der Bibliotheken ein stadtbildprägendes Bauwerk und ein innerstädtischer Treffpunkt gewesen, doch der zunehmende Verfall und starke Überformungen hatten dazu geführt, dass auch viele Anwohnende den Erhalt nicht mehr unterstützen. Zwar gab es kurz vor dem Beschluss des Abrisses noch Proteste, doch konnte die Sprengung im Jahr 1996 nicht verhindert werden.

Kaufhaus und Platzkomposition

Das große Interesse an diesem Abriss lässt sich auch in einem anderen Bestand des Baukunstarchivs nachvollziehen: Das Architektenpaar Mechtild Gastreich-Moritz und Ulrich Gastreich – das mit den Pavillons am Hauptbahnhof selbst am Gesicht des »Neuen Dortmund« der Nachkriegszeit mitgewirkt und den Abriss dieser Bauten 1995 miterlebt hatte – fotografierte die Sprengung und bewahrte diese Fotografien auf. Der Abriss der Pavillons am Hauptbahnhof machte letztlich Platz für einen Neubau von Mario Botta. Am Standort des früheren Hauses der Bibliotheken erinnert heute nichts mehr an diesen stadtbildprägenden Bau. An seiner Stelle wurde ein Kaufhaus gesetzt. Lediglich die scheibenartigen Elemente aus der Platzkomposition Meißners und Fortmann-Drühes sind auf dem Hansaplatz zurückgeblieben und zitieren das Mosaik des Hauses der Bibliotheken.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Bildung@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2022, S. 262–277.