Kirche im Quadrat

Christos Stremmenos

Mit einer Drehung um 45 Grad lässt sich ein regelmäßig konstruiertes Quadrat in eine Raute umdeuten. Dies entspricht den Gesetzmäßigkeiten der euklidischen Geometrie, die den viereckigen Polygonzug mit einer derartigen Drehung um einen Punkt in den Grenzbereich der Sphäre der Rauten überleitet und gleich zwei immanente Lesarten in dieser Figur vereint: ein regelmäßig konstruiertes, seine orthogonale Einbindung verlassendes, in eine Raute sich hineindrehendes Quadrat; oder eben eine Raute, die mit vier gleichen Winkeln und gleich langen Seiten, ein Quadrat in sich tragend, als Sonderfall klassifiziert ist.

Geometrische Doppeldeutigkeiten

Die prägnante Wiedergabe dieser geometrisch einverleibten Doppeldeutigkeit dürfte auch die Motivation der Architekten Albrecht Egon Wittig und Fred Janowski gewesen sein, das regelmäßige, die Grundlage ihres Entwurfs für die Evangelische Thomaskirche in Gelsenkirchen Buer-Erle bildende, Quadrat mit einer Drehung um exakt 45 Grad auf das Zeichenpapier zu positionieren. Man könnte meinen, die vorgenommene Platzierung der mit Tusche auf Transparentpapier gezeichneten Grundrisse über Erdgeschoss und Emporenebene des Kirchenbauwerks, die gemeinsam mit weiteren Zeichnungen die durch die Bauherrenvertretung im Mai 1963 freigegebene Planung darstellen, sei unwesentlich oder nur vordergründig von Bedeutung. Erst diese Form der Setzung dekontextualisiert jedoch die Figur in der Art, in der sie ihr grundlegendes Wesen in ihren idealtypischen Wirkweisen auf vornehmlich neutralem Zeichenpapier zur Geltung bringt. Die beiden Diagonalen des rotierten Quadrats richten sich somit zu den dominanten, die Figur determinierenden Symmetrieachsen aus, die zugleich eine exakt parallele Stellung zu den Blatträndern einnehmend, dem Zeiger eines Kompasses gleich, die Winkelstellungen des Quadrats rautenartig auf dem Papier ausrichten. Die in vier unterschiedliche paarweise entgegengesetzte Richtungen verweisenden Winkel artikulieren förmlich überspitzte Abgrenzungen zu einem außerhalb der Figur sich Verortenden. Nach Innen generieren die Schenkel derselben Winkelstellungen komplementäre, nischenartige zu den Scheitelpunkten sich zuspitzende Introvertiertheiten.

Zur Hervorhebung des Idealtypischen eines regelmäßigen Quadrats hingegen ist eine über seine Seiten vorzunehmende orthogonale Einbettung entscheidend, die zu den Blatträndern sich parallel und gegenüberliegend einstellend, die figürlich erzeugten Abgrenzungen nach außen in Semantiken des Gegenübers und des Frontalen wiedergeben. Auch im Inneren wird die Figur über ähnliche Konnotationen fixiert, die unter Einbeziehung der flankierenden Seiten frontale Lesarten in vier Richtungen erzeugen.

Unabhängig von den über derartigen Quadraten oder Rauten vorgenommenen Projektierungen und entwurflichen Ausdifferenzierungen in der dritten Dimension, sind die hier beschriebenen Eigenschaften den geometrischen Figuren inhärent und treten durch die beschriebene idealtypische Platzierung zum Vorschein. Dies wird umso deutlicher, vergleicht man die durch die Architekten rautenförmig zu Papier gebrachten Grundrisse der Entwurfszeichnung  mit der das Quadratische hervorhebenden Setzung des 1966 nach Realisierung der Thomaskirche in der Zeitschrift »Kunst und Kirche« erschienenen Artikels von Stephan Hirzel »Weißer Kirchenraum«. Die hier orthogonal artikulierte Platzierung erscheint nicht nur aufgrund von grafischen Erwägungen und unter Berücksichtigung des Blocksatzes getroffen worden zu sein. Der Passus »Grundfigur Quadrat mit diagonaler Symmetrieachse« in der begleitenden Bildunterschrift lässt vermuten, dass das layouttechnische Zurückdrehen der Raute auf die Ausgangsposition Quadrat vom Autor gebilligt wird. Auch in seinen weiteren textlichen Ausführungen und Analysen würdigt Hirzel unter Erwähnung der besonderen Bedeutung der Diagonale nur das zugrundeliegende Quadrat. Der Präsentation der Kirche entgehen hierdurch die dem Entwurf doch so wesentliche geometrische Doppeldeutigkeit, vor allem in ihren rautenhaften Ausprägungen, die in einem orthogonal geprägten städtischen Kontext prominent zur Geltung kommen.

Zelt und Schiff zugleich

Wittig und Janowski adaptieren in ihrem Entwurf die Charakteristika der zugrundeliegenden Figur in vielerlei Hinsicht. Indem sie die Erschließung und die Kubatur entlang der Symmetrieachse entwickeln und ausrichten, überhöhen sie ihre Bedeutung deutlich und erfahrbar. Läuft man entlang der Verlängerung die Straße »Am Fettingkotten« zur Kirche hoch, erhebt sich entlang des rotierten Quadrats zum Scheitelpunkt der rautenförmigen Grundfigur der Baukörper schiffsbugartig in die Höhe. Diese Positionierung im Stadtraum stiftet regelrecht an, dieses hier gestrandete, aus der Orthogonalität der städtischen Textur herausgedrehte abstrakte Kirchenschiff zu erkunden und zu umlaufen. Seitlich betrachtet hingegen wirkt das Bauwerk mit seinen in zwei entgegengesetzte Richtungen entlang der Seiten zu den Spitzen der Raute sich in die Höhe entwickelnden dreiecksförmigen Flächen, als sei es nicht aus massiven Baustoffen, sondern in der Leichtigkeit von aus Papier in Origamimanier gefalteten Objekten erbaut. So könnte man aus der Ferne meinen, ein scharfkantiges Schiff zu erkennen oder aber eine zeltartige Struktur. Läuft man entlang der gefalteten, in Dreiecken aufgehenden, Wände um das Gebäude herum, gelangt man zur auf der straßenabgewandten Seite des Hauses sich verortenden, durch Subtraktion einer Ecke aus der Volumetrie herausgebildeten Eingangssituation. Man könnte meinen, die Architekten zielten darauf ab, das Bauwerk zunächst in seiner Kubatur zu erfahren und den Weg in die Kirche der gefalteten Abwicklung folgend zu strecken. Dies erinnert an Strategien einer stufenweisen Entschleunigung und Annäherung, wie es hofierende Vorplätze, Treppenanlagen, Vorhöfe oder Kreuzgänge vor sakralen Bauwerken oft übernehmen.

Um die aussagekräftige Wiedergabe dieser unterschiedlichen Lesarten der Kubatur aus verschiedenen Blickwinkeln im Stadtraum ist ein Präsentationsblatt aus braunem mattem Fotokarton bemüht, auf dem eine kleine Abwicklung von Fotografien montiert ist. Die aus drei jeweils um 90 Grad zueinander gedrehten Standpunkten vorgenommenen Ablichtungen geben die unterschiedlichen hier beschriebenen Ausformulierungen entlang der beiden Symmetrieachsen der zugrundeliegenden Raute eindrucksvoll wieder. Auf der in mittlerer Position angebrachten, von der Eingangsseite des Hauses aus leicht erhabener Stelle aufgenommenen, Fotografie erblickt man das 1965 kurz vor seiner Fertigstellung stehende, sich über den Dächern des noch selbst in seiner Entstehung befindenden Siedlungsgebiets »Berger Feld« erhebende Bauwerk. Der aus diesem Blickwinkel auf den »Fettingkotten« zurückverweisende rückseitig sich als Glockenturm zu erkennen gebende Schiffsbug zeigt auf eine gegenüberliegende platzartige Anlage, an der sich eine aus gestaffelten Kuben zusammengesetzte Ladenzeile angliedert. An dieser Stelle in einem kleinen quadratischen etwa 45 Quadratmeter großen Ladenlokal der Hausnummer 47 befand sich das erste provisorisch eingerichtete Gotteshaus des jungen, 1961 sich neu formierenden Gemeindebezirks »Berger Feld« der Ev. Kirchengemeinde Gelsenkirchen Buer-Erle. Mit Klängen des Erler Posaunenchors wurde am 30.7.1961 in der durch das Engagement von Gemeindemitgliedern ausgestalteten Ladenkirche zum ersten Gottesdienst auf dem »Berger Feld« gerufen. Bis zur Errichtung der Thomaskirche leistete das kleine Provisorium vier Jahre lang seinen Dienst und wurde zum Mittel- und Ruhepunkt des jungen Gemeindebezirks. Vom Schaufenster der beliebten und durch Veröffentlichungen über die Grenzen Gelsenkirchens hinaus bekannt gewordenen Ladenkirche konnten die Gemeindemitglieder die sich über rautenförmiger Grundfläche etappenweise zum gefalteten Schiff aufrichtende Kirche beobachten.

Kirche im Quadrat

Mit der Einweihung am 12.9.1965 zogen sie in ein Bauwerk ein, das auch in seinem Inneren aus der Ambiguität der ineinander liegenden und sich gegenseitig bedingenden Figuren heraus erdacht worden war. Bedingt durch die rautenförmige Disposition, erschließt und durchmisst man den Raum visuell entlang der beiden Symmetrieachsen, die gleichsam die längsten Strecken markieren, die sich in dieser Figur konstruieren und dadurch den Raum optisch tiefer und breiter wirken lassen. Den ersten räumlichen Eindruck definieren die sich über den beiden Schenkeln des gegenüberliegenden Winkels erhebenden Wände, die in dieser gespreizten Anordnung eine empfangende Geste formen, in die man mit Betreten der Kirche regelrecht hineingesogen wird. Gewissermaßen in den Schoß des Kirchenraumes setzen die Architekten – komplementär zur subtraktiven Ausbildung des Eingangs – additiv eine als Altarwand fungierende weiße Wandscheibe. Die raumhohe und quadratische weiße Wand führt in den Raum erneut das zuvor herausgedrehte Frontale ein, das mit seiner statisch-setzenden Wirkung eine kontemplative Atmosphäre befördert. Dieser Eindruck wird durch eine Arbeit von Heinz Nickel akzentuiert.

Aus einem kubischen Grundmodul heraus modifiziert der Künstler eine variantenreiche Palette von Kuben und Prismen, die er im Raster auf die Altarwand anbringend reliefartig zu einer Skulptur verschmelzen lässt. Aus den Plätzen der amphitheatralisch um die Altarwand und die Prinzipalstücke angeordneten Sitzbänke wird das strahlende, im Raum einen Ruhepol darstellende Kunstwerk je nach Standort und Tageszeit in jeweils unterschiedlichen temporären, fein nuancierten Stimmungen aus Licht und Schatten erlebt. Die einzelnen aus der Wand herausragenden weißen Kuben werfen je nach Modifikationsgrad und Tageslichtintensität unterschiedlich gesättigte Schatten auf die weiße Wand und erzeugen genuine Licht- und Schattenspiele auf schalungsrauer Betonoberfläche (#Kirche St. Reinoldi; #Kirche Heilig Blut). Je nach Lichtverhältnis und Stimmungslage lässt sich zur Mitte des Reliefs ein sich aus den zwischen den Kuben liegenden Fugen formendes Kreuz erkennen.

Derartig gestaltet wirkt die Altarwand wie ein museales Kunstobjekt, das von allen Standpunkten des Raumes betrachtet und interpretiert werden kann und seitlich von zwei, eine empfangende Geste formenden, Wänden gehalten wird. Das Zusammenspiel dieser beiden Elemente überhöhen die Architekten mit einem weiteren Kunstgriff: Dreiecksförmig lösen sie den unteren über Boden liegenden Bereich der beiden gespreizten Wände in schlanke unterstützende, das Licht brechende Pfeiler mit dazwischen lagernden Glasflächen auf (#Stahllamellen-Modellkirche). Die vorgenommene Auflösung der Massivität akzentuiert die empfangende Geste, die nun wie durch Licht getragen erscheint. Diese in großformatige Dreiecke aufgehende Abwicklung der Entmaterialisierung übertragen die Architekten auf alle vier die Kirche umgrenzenden Wände.

Entmaterialisierende Einschnitte

Ein Vergleich des realisierten Bauwerks mit der im Mai 1963 freigegebenen Schnittzeichnung lässt vermuten, dass diese die Konzeption schärfende Optimierung zu einem relativ späten Zeitpunkt des Planungsprozesses vorgenommen wurde. In den Schnitten ist deutlich erkennbar, dass die entmaterialisierenden Einschnitte zunächst auf die beiden die Altarwand flankierenden Wände limitiert war. Realisiert wurden sie letztendlich jedoch umlaufend, was zu einer merklichen Aufwertung der sublimen Stimmung beiträgt. In dieser Ausführung schwebt nun über einem einfachen, regelmäßigen und aus der orthogonalen Einbettung der städtischen Textur herausgedrehten Quadrat ein lichtgetragenes Bauwerk. Im Stadtraum lassen die Einschnitte das leichte, wie aus Papier gefaltete Kirchenschiff mit seinem scharf in die Höhe ragenden Bug, einem schwimmenden Wellenbrecher gleich, die Lichtwellen über dem Berger Feld brechen.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Religion@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2021, S. 198–213.