Bibliothek für alle

Judith Klein, Christin Ruppio

Die Gründung der Ruhr-Universität Bochum im Jahr 1961 kann als wichtiger Schritt gegen den damals befürchteten »Bildungsnotstand« verstanden werden. Es ist daher nicht allein für die Orientierung auf dem Campus sinnvoll, dass die Bibliothek auf der Magistrale – also der Hauptverkehrslinie – liegt, sondern diese Platzierung kann auch als programmatische Setzung verstanden werden. Die Ruhr-Universität Bochum war – und ist – eine Universität »für alle«, die auch für Angehörige weniger wohlhabender oder nicht-akademischer Familien die Chance eines Hochschulstudiums ermöglichen soll.

Stahlbetonkonstruktion

Eine Freihandbibliothek, die im Ensemble mit dem skulptural hervorstechenden Auditorium Maximum und einem zwischen den beiden Gebäuden aufgespannten, großzügigen Platz den Dreh- und Angelpunkt bildet, spricht vom Verständnis einer offenen Universität. Um dieses Ensemble herum verlaufen die Wege auf unterschiedlich hoch gelegenen Ebenen, die vielseitige Aussichten auf das Herz des Campus ermöglichen. Das Cover einer Informationsbroschüre, die sich im Nachlass des verantwortlichen Architekten Bruno Lambart findet, hebt diese Platzierung der Universitätsbibliothek durch eine farbige Markierung hervor.

Bei der zwischen 1970 und 1974 erbauten Bibliothek handelt es sich um eine Stahlbetonkonstruktion, die keine tragenden Wände hat, sondern durch teilweise auch im Außenbereich sichtbare Stützen getragen wird. Wie die anderen, von Hentrich, Petschnigg & Partner geplanten, Gebäude auf dem Campus, ist auch die Bibliothek mithilfe eines Fertigbausystems entstanden, das speziell für dieses Vorhaben entwickelt wurde und dem ein Raster von 7,50 Metern zugrunde liegt. An diesem Bau finden sich sowohl in Serie vorgefertigte Betonelemente wie auch Beton, der vor Ort gegossen wurde. Für die Produktion der Betonfertigteile wurde eigens eine temporäre Feldfabrik auf dem Gelände betrieben.

Zonen und offene Flächen

Die Anmutung der Außenfassaden wird von vier Materialien bestimmt: Stahl, Beton, Backstein und Glas. Die unterschiedlichen Arten der Betonverarbeitung (#St. Nicolai) – strukturiert, glatt und schalungsrau – beleben die Fassaden in besonderem Maße. Es gibt keine verputzten oder verzierenden Elemente. Die Bibliothek ist damit ein gutes Beispiel für die »Materialehrlichkeit« der Nachkriegsmoderne.

Wie eine Ansicht von Westen übersichtlich darlegt, ist der Bau in drei übereinander liegende Zonen gegliedert: Das obere Drittel wirkt besonders kompakt und wird von strukturierten Betonplatten bestimmt; im mittleren Drittel beginnen Glasfenster mit roten Stahlrahmen – teils von Betonelementen unterbrochen – die Fassade zu öffnen; im unteren Drittel schließlich tritt der Baukörper zurück, um tragende Stützen sichtbar werden zu lassen. Durch diese Öffnung der Fassade im unteren Drittel entstehen Umläufe und offene Flächen, die die Südfassade der Bibliothek und den auf dieser Seite vorgelagerten Platz miteinander verbinden. An dieser Stelle – wo sich heute die Räume der Kunstsammlung der Universität befinden – waren ursprünglich eine Cafeteria und der Haupteingang geplant.

Orte des Zusammenkommens

Mit der Entscheidung, die Kunstsammlung in den Bibliotheksbau zu integrieren, musste der Haupteingang an die Nordfassade verlegt werden. Wenngleich die Aufnahme der Kunstsammlung eine Bereicherung des zentralen Ensembles auf der Magistrale ist, bedeutete sie für Lambarts Entwurf auch eine gewisse Entfernung der Bibliothek vom zentralen Forum. In vielen Entwürfen im Nachlass des Architekten finden sich Hinweise darauf, dass er Foren als Orte des Zusammenkommens und des Austausches insbesondere für Bildungsbauten im Innen- und Außenraum als wichtig erachtete. Ein Beispiel ist der Bestand zum Allgemeinen Verfügungszentrum der Fernuniversität Hagen, das Lambart zwischen 1977 und 1979 baute. Da es sich um die erste – und bis heute einzige staatliche – Fernuniversität in der Bundesrepublik handelte, musste hier ein völlig neues Raumprogramm entwickelt werden. Ein Schnitt zeigt, wie Lambart auch den Außenbereich des Systembaus als Forum mitplante und die Aufenthaltsqualität der unterschiedlichen Gebäudebereiche durch menschliche Figuren im Plan einbezog. Eine Perspektive aus dem Bestand zur Fernuniversität verdeutlicht, wie sich Lambart den belebten Ort vorstellte.

Zentrale Treppe

Und auch den Innenraum der Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität belebte Lambart durch die Schaffung unterschiedlicher Begegnungs- und Arbeitszonen sowie einen geschickten Materialeinsatz. Die Materialästhetik des schalungsrauen Betons, der auch an den Außenfassaden Verwendung fand, setzt sich im Inneren der Bibliothek fort. Insbesondere bei der freitragenden und skulptural anmutenden Betontreppe – dem zentrale Erschließungselement – wirkt das Material durch das von oben einfallende natürliche Tageslicht regelrecht inszeniert. Das Spiel von Licht und Schatten lenkt dabei die Aufmerksamkeit besonders auf die Untersicht und damit auf die Ingenieurleistung, die Treppe freitragend zu konstruieren. Um die zentrale Treppe herum befinden sich auf jeder Etage Galerien, die als Orte der Kommunikation dienen, für eine kleine Pause, aber auch als Arbeitsplätze. Die frei zugänglichen Buchbestände sind durch Glaswände von der Galerie getrennt. In diesem Bereich finden sich direkt an den Fensterbändern weitere Lese- und Arbeitsplätze. So wird das natürliche Tageslicht optimal genutzt, und der Buchbestand ist gleichzeitig vor zu viel direktem Sonnenlicht geschützt.

Dritter Ort

Diese »Bibliothek für alle« ist Lernort und Informationszentrum, aber mit den Pausenplätzen auf den Galerien ebenso wichtiger Dritter Ort für die Lernenden und Forschenden. Um ihnen die Navigation im Gebäude zu erleichtern, plante Lambart von Beginn an ein numerisch und farblich kodiertes Orientierungssystem für die Bibliothek ein. Die farbigen Zahlenkombinationen sind direkt auf den Sichtbeton aufgetragen und verweisen auf die verschiedenen Bereiche.

Freihand-System

Während der langen Phase zwischen Eröffnung der Ruhr-Universität Bochum 1965 und der Inbetriebnahme der Bibliothek 1974 wurde das Bibliotheken-System an vielen Universitäten von Magazin auf Freihand umgestellt. Das frühere System erforderte große Magazine, aus denen Bücher nur auf Anfrage herausgegebene wurden. Die Ruhr-Universität Bochum war eine der ersten Universitäten, deren Bibliothek nach dem neuen Freihand-System geplant wurde; sich die Bücher also in freizugänglichen Räumen befinden, die es allen Interessierten erlauben, ein Buch aus dem Regal zu nehmen. Die Realisierung dieses neuen, wegweisenden Systems war nur durch den Einsatz neuer revolutionärer Computertechnik der Firma Siemens möglich. Und auch die Architektur musste ganz neu gedacht werden.

Kunstsammlung

Heute zeigen zwei Kunstwerke im Außenbereich der Bibliothek, dass sie ein Ort ist, der sich mit dem Campus und dem Anspruch an Lehre und Forschung weiterentwickelt (#TU Dortmund, EF 50). Auf der Suche nach einem geeigneten Mahnmal gegen die Jugoslawienkriege entschied man sich Ende der 1990er Jahre, Picassos »Guernica« – das zuvor bereits an anderer Stelle auf dem Campus als Antikriegs-Mahnmal reproduziert, aber bei Instandsetzungen zerstört worden war – zurück auf den Bochumer Campus zu holen. Da Picassos Erben eine malerische Kopie untersagten, ziert seither eine fotografische Reproduktion einen Teil der Südfassade. Seit 2005 finden sich darüber hinaus zwei Neon-Installationen des Künstlers Mischa Kuball an Nord- und Südfassade der Bibliothek. An der Südfassade blinken die einzelnen Buchstaben des Schriftzugs »Kunstsammlung der Ruhr-Universität Bochum« in unregelmäßigen Abständen auf. Auf der Nordseite steht in Spiegelschrift »Universitätsbibliothek Bochum«, was so auf die ursprüngliche Planung verweist, den Haupteingang nach Süden, zum Forum und Richtung Auditorium Maximum zu legen.

Audioguide

Und auch in jüngster Zeit stand der Bau im Fokus von Forschung und öffentlichem Interesse: 2018 wurde er von der Initiative »Big Beautiful Buildings« ausgezeichnet. 2020 wurde in Kooperation mit dem Projekt »Stadt Bauten Ruhr« der Audioguide »ZukunftsSPUREN« erarbeitet, in dem die Bibliothek von Bruno Lambart als ein regionsprägendes Bauwerk thematisiert wird. Der Guide kann als Einladung auch an Anwohnende der Region und Interessierte verstanden werden, sich diesen Ort wirklich als »Bibliothek für alle« zu erschließen.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Bildung@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2022, S. 294–307.