»Von Turku bis Essen«

Christin Ruppio

Am Beispiel des Aalto-Theaters in Essen zeigt sich das spannungsvolle Zusammenspiel von gebauter Umwelt und Architektur-Archiv. Während der Theaterbau – vor allem durch seinen Namen, aber auch durch die charakteristischen, organisch-geschwungenen Formen – suggeriert, dass er von dem finnischen Architekten Alvar Aalto vollendet wurde, erzählen die im Baukunstarchiv NRW bewahrten Nachlässe eine andere Geschichte. Zwar beginnt die Geschichte des Bauwerkes 1959 mit einem erfolgreichen Wettbewerbsbeitrag von Alvar Aalto, die Umsetzung wurde aber erst zwischen 1983 und 1988 von Harald Deilmann vollzogen. Es handelt sich also um die Auseinandersetzung eines Architekten mit dem Entwurf eines anderen, Jahre später und unter veränderten Vorzeichen: »Von Turku bis Essen«.

»Wahrung des künstlerisch-architektonischen Konzepts«

Dass es sich dabei um zwei – auch der jeweiligen Entstehungszeit entsprechend – sehr unterschiedliche Herangehensweisen handelt, lässt sich an den Archivalien ablesen. Statt Mappen mit Skizzen und Plänen, wie sie uns Aaltos Nachlässe in anderen Archiven zeigen, konfrontiert der Deilmann-Bestand zu diesem Projekt uns vor allem mit Kästen voller Microfiches sowie Fotografien des vollendeten Bauwerkes. Darüber hinaus finden sich einige Kopien und Fotografien von Aaltos Entwurf. Diese Gegenüberstellung wirkt zunächst so, als stünde auf der einen Seite der kreative Geist Aaltos – mit expressiven Skizzen – und auf der anderen Deilmanns akkurat-technische Ausführung. Und doch muss Deilmanns Beitrag deutlich höher anerkannt werden denn als bloße Umsetzung einer bereits vollendeten Vision. Da Deilmann die »Wahrung des künstlerisch-architektonischen Konzepts« Aaltos als Maxime über das Projekt stellte, musste er die eigene Architektenpersönlichkeit deutlich zurücknehmen. Dennoch setzte Deilmann – neben den notwendigen Anpassungen an Bauvorschriften – einige für das Bauwerk und seine Nutzung maßgebliche Veränderungen um. Hervorzuheben ist die Verbesserung der Raumakustik, die das Aalto-Theater zu einem der beliebtesten Opernhäuser im deutschsprachigen Raum macht.

Wie eine schnelle Skizze

Im Archiv findet sich dazu ein interessantes Blatt: eine am Computer erstellte Skizze des Zuschauerraums. Auf den ersten Blick könnte es sich um eine Handzeichnung handeln, doch bei näherer Untersuchung wird schnell klar, dass es eine computerunterstütze Grafik ist. Keine Hand hat einen Stift auf dem Blatt geführt, und doch erscheint es wie eine schnelle Skizze, um sich über die Wirkung der an den Wänden und Decken installierten Akustikelemente zu verständigen. Wenngleich Deilmann also durch Aaltos Planung bereits ein Weg für die Vollendung des Bauwerks vorgegeben war, setzte er an entscheidenden Stellen ein, um das Theater auf höchstem Niveau zu verwirklichen.

Für die Umsetzung einer flexiblen Bühnentechnik zeichnete Adolf Zotzmann verantwortlich und gewährleistete so, dass das Haus für große Konzerte und intimere Darbietungen gleichermaßen gerüstet ist. Durch bewegliche Wände und Podien können unterschiedliche Bühnentiefen, Bodenlevel und Neigungen erzeugt werden, die den Anschein eines Übergangs vom Zuschauer- in den Bühnenraum erwecken. Es handelt sich nicht um einen reinen Guckkasten, eine komplette Auflösung zwischen Zuschauer- und Bühnenraum war aber nicht intendiert.

Asymmetrische Reihung

Deilmann war überzeugt, dass die komplette Auflösung der Grenze zwischen Zuschauerraum und Bühne nicht zu vollziehen sei. Bereits für Aaltos Entwurf war das Amphitheater einer der wichtigsten Bezugspunkte gewesen. Diesem Vorbild wurde in Essen mit einer asymmetrischen Reihung der Sitze – 15 Sitze rechts und 21 Sitze links – eine neue Dynamik und Raumwirkung verliehen. Deilmanns Umsetzung bietet heute 1125 Zuschauenden Platz. Bei Vertretern der Auflösung räumlicher Trennungen im Theater – darunter Werner Ruhnau – stieß die Konzeption auf Widerstand, und ebenso wurden Stimmen laut, die die Frage nach dem Sinn eines neuen Musiktheaters stellten, wo doch nur wenige Kilometer weiter das Musiktheater (#Musiktheater im Revier) im Revier stehe.

Nicht nur Musentempel

Wenngleich ein kompletter Bruch mit einem überlieferten Theaterkonzept nicht auf der Agenda stand, betonte Deilmann 1988, dass an den Theaterbau dennoch neue Anforderungen gestellt werden müssten. Anstatt Austragungsorte der ästhetischen Erbauung einer bestimmten Schicht zu sein, sei der aktuelle Anspruch, Orte der Begegnung und Diskussion für weite Kreise der Bevölkerung zu schaffen. Ein gesellschaftswirksamer Anspruch an die Bauaufgabe spiegelte sich bereits 1958 im Ausschreibungstext: »Für die inzwischen auf 720 000 Einwohner angewachsene Bevölkerung ist ein zweites Theater notwendig, das auf einem günstig gelegenen Baugelände im Nordteil des Stadtgartens in der Nähe des Städt. Saalbaues, an der Ecke Huyssenallee, Roland- und Rellinghauser Straße, errichtet werden soll. Geplant ist ein Haus, das in erster Linie dem musikalischen Theater (Oper und Operette) und in Einzelfällen auch großen Schauspielaufführungen dienen soll. Es soll die nach der heutigen Auffassung notwendigen räumlichen und technischen Voraussetzungen erfüllen. Besonderer Wert wird auf eine städtebaulich und verkehrstechnisch gute Lösung gelegt.« Die Wettbewerbsteilnehmer sollten also nicht nur einen Musentempel schaffen, sondern vor allem Lösungen vorlegen, wie dieser städtebaulich mit seiner Umgebung zu verbinden sei (#Bauten für Kunst undKultur im Ruhrgebiet und ihre Standorte).

Fassade und Wegenetz

Die Relevanz der Lage und Erschließung des Gebäudes lässt sich auch heute noch gut erkennen: Die geschwungene Westfassade scheint Besuchende durch ihre Dynamik hineinziehen zu wollen; die flache Südfassade erscheint zunächst verschlossener, öffnet sich aber zum Park über eine ausladende Terrasse. Das grünliche Kupferdach und die Natursteinfassade fügen sich dabei harmonisch in das Grün des angrenzenden Stadtparks – auch hier musste Deilmann deutlich von Aaltos Plan einer weißen Marmor-Fassade abweichen, die den regionalen Witterungs- und Luftverhältnissen kaum standgehalten hätte. Während Autofahrende das unmittelbar vor dem Eingang gelegene Parkhaus nutzen und bis zum überdachten Foyer vorfahren können, ist das Theater auch zu Fuß durch den Park oder mit den direkt an der Ostfassade gelegenen öffentlichen Verkehrsmitteln einfach zu erreichen. Die unterschiedlichen Fortbewegungsarten sind also räumlich voneinander getrennt, laufen aber über ein Wegenetz – entweder von der Straße oder durch den Park – am Theater zusammen.

Wiederaufnahme des Projekts

Zum damaligen Wettbewerb wurden zunächst nur in Essen ansässige oder dort geborene Architekten zugelassen, darüber hinaus einige auswärtige Architekten eingeladen. Im August 1959 kam die Jury im Museum Folkwang zusammen, um die ausgestellten Entwürfe zu begutachten und letztendlich Aalto den Zuschlag zu geben. Die von der Jury angemerkten Anpassungen hatte Aalto 1964 vorgenommen und legte eine genehmigungsreife Gesamtplanung vor. Die Stadt Essen gab zu diesem Zeitpunkt allerdings anderen Bauprojekten, wie Wohnungs- und Schulbau Vorrang, so dass dieser ursprüngliche Plan nicht umgesetzt werden konnte. Nach der Wiederaufnahme des Projektes und einer angepassten Planung von Aalto 1974 – die er in Absprache mit dem am Altbau des Folkwang Museums beteiligten Architekten Horst Loy vornahm – kam das Projekt ein zweites Mal zum Erliegen. In der ersten Phase waren es die dringenderen sozialen Bauaufgaben gewesen, die die Finanzierung des Theaters unmöglich machten. Der zweite Versuch wurde von Aaltos Tod 1976 erschüttert und kam dann auch auf Grund des fortschreitenden Strukturwandels in der Region und damit einhergehenden Engpässen zunächst zum Erliegen.

Weiß und Indigo

Die stark empfundene Notwendigkeit eines neuen Theaterbaus für Essen blieb jedoch bestehen und führte zur Gründung der »Gemeinnützigen Theaterbaugesellschaft«. Von dieser wurde Harald Deilmann 1981 mit der Fortführung des Projektes beauftragt. Bereits zwanzig Jahre zuvor war Deilmann mit einigen Kollegen auf einer Exkursion in Finnland gewesen und besuchte auch das Atelier Aaltos. Dieser hatte Besuch aus Essen, um den Bau des Theaters zu besprechen und lud Deilmann und seine Kollegen ein, an der Besprechung teilzunehmen. Deilmann hatte also bereits zu dieser Zeit – völlig unbewusst – einen Einblick in die Entwicklung des Essener Projektes erhalten, das er so viele Jahre später selbst vollenden würde. Dabei beriet ihn Aaltos Witwe Elissa Aalto, die maßgeblich an den Entwürfen ihres Mannes mitwirkte. So ist es auch Elissa Aaltos Beteiligung zu verdanken, dass das Interieur des Theaters – mit seinem Zusammenspiel der Farben Weiß und Indigo in unterschiedlichen Materialien wie Marmor und Textilien – genau nach Aaltos Vorstellungen umgesetzt wurde. All dies spricht so deutlich Alvar Aaltos Designsprache, dass Harald Deilmanns maßgeblicher Beitrag in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): »Und so etwas steht in Gelsenkirchen…«, Kultur@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2020, S. 222–237.