Von der Gleichzeitigkeit der Spielräume

Anna Kloke

Eine weiß leuchtende Vitrine, raumgreifend und streng axialsymmetrisch komponiert, bildet auf einer um 1960 entstandenen Fotografie einen starken Kontrast zu den Rauchschwaden der Schlote am Horizont. Wird hier aus der Vogelperspektive das »Musiktheater im Revier« wie ein soeben gelandetes Ufo in der Kulisse einer Industriestadt im Wiederaufbau gezeigt, so blendet der Blick des Fotografen in der Novemberausgabe des Westfalenspiegels von 1959  diese Rahmenbedingungen aus. Vor strahlendem Himmel wird hier das Theater aus der Sicht eines Flaneurs, der das ordentlich vor Ladenlokalen geparkte Symbol des deutschen Wirtschaftswunders passiert, inszeniert. Erst im Text wird auf einen vermeintlichen Culture Clash hingewiesen: Die »Stadt der tausend Feuer« habe mit dem Theater »ihren kulturellen Lebenswillen um ein modernes Manifest bereichert«. Wo Industrien sich zu einer »Sinfonie der Arbeit« verbündet und Fußball und Galopprennen zu Hause seien, werde »nun auch den Musen ein würdiges, neues Heim« errichtet.

Spielorte der Stadt

Zwar mangelte es Gelsenkirchen, durch Industrialisierung und Eingemeindungen rasant zur Großstadt angewachsen, bereits vor dem Zweiten Weltkrieg an öffentlichen Kulturbauten, jedoch boten unter anderem Behelfsbühnen in Kinos, Gaststätten und städtischen Einrichtungen dem kulturellen Leben Entfaltungsmöglichkeiten. So gab es auch in der 1935 neu errichteten Stadthalle eine Bühne für Theateraufführungen, die jedoch im Krieg zerstört wurde und 1955 Ersatz fand durch einen Umbau des Konzertsaals im Hans-Sachs-Haus.

Ein von der Stadt in Auftrag gegebenes Gutachten zum Bau eines neuen Theaters betonte 1952 die städtebauliche Bedeutung genau dieses Backsteingebäudes nach einem Entwurf des Architekten Alfred Fischer. Auf Grundlage des Gutachtens wurde daher in einem Wettbewerb die Position des neuen Theaters an der Florastraße als »städtebauliches Gelenk« zwischen dem Hans-Sachs-Haus und der neuromanischen Georgskirche an der Florastraße festgelegt (#Neue Stadtkronen für Gelsenkirchen, Duisburg und Essen). Der anfangs noch nicht versperrte Blick aus dem verglasten Theaterfoyer auf das Hans-Sachs-Haus ist auf einem Archivfoto dokumentiert. Das Bild lässt den Stadtraum wie eine Guckkastenbühne wirken: Wie von einem Logenplatz laden in Position gebrachte Stühle, eigens vom Architekten für das Gebäude entworfen, zum Betrachten des Schauspiels auf der Straße ein.

Baubeschreibung

Diese bewusste Inszenierung einer Gleichzeitigkeit der Spielräume stammt von dem Architekten Werner Ruhnau, Jahrgang 1922, der 1955 mit dem Bau der »Städtischen Bühnen Gelsenkirchen«, später umbenannt in »Musiktheater im Revier«, beauftragt wurde.

Neben dem sogenannten »Kleinen Haus«, das der Essener Architekt in einer zweiten Wettbewerbsstufe aus einem Nebengebäude mit Probebühne entwickelte, bildet das sogenannte »Große Haus« den Schwerpunkt des Ensembles mit vorgelagertem Platz. Der axialsymmetrische, quaderförmige Baukörper des Großen Hauses schwebt an der Eingangsseite über einem zurückgesetzten schwarz gekachelten Sockel. Darüber erstreckt sich die Glasfassade, die den Blick auf die beiden Foyers freigibt. Sie dehnen sich über die komplette Fassadenbreite aus und sind durch eine weiß verputze Rückwand mit mittiger Treppenrotunde vom dahinterliegenden Auditorium getrennt. Der Eingang zum Haus befindet sich in einem vorgelagerten eingeschossigen Flachbau auf der Mittelachse, der frontal vollflächig mit einer Skulptur des Künstlers Robert Adams versehen ist. Über allem thront der Bühnenturm, der in den 2000er Jahren infolge technischer Ertüchtigungen vergrößert werden musste.

Eine zweigeschossige, vollverglaste Brücke schafft eine Verbindung zum Kleinen Haus an der Westseite, das im Gegensatz zum Zweirangtheater im Großen Haus mit über 1000 Sitzplätzen nur 336 Besuchern auf freier Bestuhlung Platz bietet. Der mit grauen Natursteinplatten verkleidete Quader unter bleiverkleidetem Dach scheint über einem zurückspringenden, verglasten Sockel mit offener Pfeilerloge zu schweben. Auch das Pausenfoyer im ersten Obergeschoss verfügt zur Overwegstraße hin über eine vollflächige Verglasung. An der Wand befindet sich eine Installation des Künstlers Jean Tinguely, die auch auf einer Fotocollage (Ausschnitt Fotocollage, Foto oben Mitte) Ruhnaus zu erkennen ist.

Sonderfachleute für Ästhetik

Die Bilder erzählen im wahrsten Sinne des Wortes vom Zusammenspiel der am Bau Beteiligten. So verstand Ruhnau sich »als Intendant oder Regisseur, der gemeinsam mit bildenden Künstlern und Fachleuten wie Statikern, Handwerkern, Akustikern ein Werk gestaltet.« Nach einem Wettbewerb wurde im Februar 1958 eine internationale Künstlergruppe mit der künstlerischen Ausgestaltung des Theaters beauftragt. Die aus Kontaktabzügen zusammengesetzte Collage vermittelt den Eindruck von einem Baugeschehen, dessen Eigenheit auch im zeitweiligen Zusammenleben der Künstler auf der Baustelle nach dem Vorbild einer mittelalterlichen Bauhütte begründet ist. Zu Ruhnaus »Sonderfachleuten für Ästhetik« zählten neben dem bereits erwähnten Franzosen Jean Tinguely und dem Briten Robert Adams auch der deutsche Künstler Norbert Kricke, von dem ein Relief an der Außenwand des Kleinen Hauses stammt. Aus Berlin angereist, gestaltete Paul Dierkes die Rotunde im Foyer des Großen Hauses. Eine tragende Rolle wurde vor allem Yves Klein zuteil, der hier in der Collage auf einer Hebebühne vor seinen ultramarinblauen »reliefs éponge« zu sehen ist. Diese Schwammreliefs auf sechs Wandtafeln etablierten sich zu einer Art Markenzeichen des Theaters. Die Glasfassade des Großen Hauses ist ihre Vitrine, die insbesondere bei Dunkelheit die Kunstwerke in Szene setzt. So kommt nicht nur das zahlende Publikum, sondern auch der Passant in einen Kunstgenuss.

Der umfassende Gestaltungsanspruch Werner Ruhnaus

Ruhnau betonte stets, dass die Transparenz des Gebäudes nicht nur zeittypisch als Abbild demokratischer Offenheit gedacht war, sondern dem »homo ludens« eine Fortführung der Bühne in die Foyers und darüber hinaus in die Stadtgesellschaft ermöglichen sollte. Wie in verschiedenen Manifesten und anderen Publikationen dargelegt, verstand Ruhnau das Theater als Testlauf neuen gesellschaftlichen Miteinanders, das in der Stadt nicht nur sicht-, sondern auch erlebbar sein sollte. So ist das Haupthaus mit seinen offenen Foyers, wie bereits erwähnt, bewusst als Fenster und Schaukasten zur Stadt angelegt.

Mit Hilfe einer Zentralperspektive stellte Ruhnau um 1960 in einer gezeichneten Stadtvision das Theater in den Mittelpunkt einer weiteren städtebaulichen Entwicklung. Die Zeichnung verdeutlicht den umfassenden Gestaltungsanspruch des Architekten und steht stellvertretend für dessen zeitlebens andauernde Beschäftigung mit dem Gebäude. So mischte er sich in Debatten zur Stadtplanung ein und war zuletzt zu Beginn der 2000er Jahre in Partnerschaft mit seinem Sohn Georg Ruhnau mit Sanierungsmaßnahmen beauftragt. Von Beginn betrieb Ruhnau offensiv international Öffentlichkeitsarbeit (#Im Revier der Transparenzen) für das 1997 unter Denkmalschutz gestellte Haus und dokumentierte diese für sein eigenes Archiv, das post mortem 2018 in den Besitz des Baukunstarchivs NRW überging. Der allein im Umfang bemerkenswerte Nachlass weist eine große mediale Vielfalt auf und lässt das Musiktheater als das frühe Schlüsselwerk Werner Ruhnaus erkennen.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): »Und so etwas steht in Gelsenkirchen…«, Kultur@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2020, S. 28–41.