Verläufe sakraler Transparenz - Bodenhaftende Firmamente und erhabene Monolithe

Christos Stremmenos

Sechs steile Rampen und 22 Stufen trennen das städtische Straßenpflaster von den himmlischen Stimmungsbildern. Es ist keine extreme Höhe, die überwunden werden muss, um an diesen Ort zu gelangen. Von der höchsten fußläufig zu erreichenden kleinen plateauartigen Stelle der künstlich angelegten Anhöhe öffnet sich, durch die leicht erhabene privilegierte Lage, die Sicht auf das Umliegende. Stufe für Stufe wird mit Verlassen des Pflasters des Alltags auf Höhe des Straßenniveaus das Umgebende in seiner Wahrnehmung mit der Aufwärtsbewegung schrittweise konditioniert. Ungewohnte Blickwinkel stellen sich ein. Details treten schärfer in Erscheinung und werden in neue Zusammenhänge gestellt. Neue Verbindungen lassen sich zwischen den eher aus der Beiläufigkeit der Alltagsperspektive bekannten und unbekannten Dingen ziehen, die sich zu einem Geflecht neuer Eindrücke verdichten.

Es ist nicht nur die umgebende Landschaft und das in ihr eingebettete Menschenwerk, zu dem hier aus der Distanz der erhabenen Position heraus eine seltsame Nähe aufgebaut wird. Auch dem im Alltag gewöhnlich durch die steinernen Schablonen enger Straßenschluchten und den Lichtungen der Plätze zumeist in Ausschnitten in Erscheinung tretenden Himmel, scheint man hier weit näher gerückt zu sein, als es die Aufsummierung der physisch überwundenen Stufen und Rampen der Anhöhe wiedergeben. Der in planetarischer Weite sich öffnende Himmel vermittelt ein Gefühl des Ausgesetztseins. Verfärbungen, Wolken- und Sternenbilder stellen sich zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten ein, wechseln sich ereignisreich ab und wirken gewaltiger.

Ein derart angelegter Aussichtspunkt, von dem aus sich himmlische Stimmungsbilder einfangen lassen, bildet allein schon inmitten der Stadtlandschaft einen kleinen eindrucksvollen Höhepunkt. Im konkreten Fall agiert er jedoch zunächst als Zwischenhalt, eingebettet in eine weit spektakulärer angelegte Choreografie. Wendet man sich nämlich auf dem Plateau von der Aussicht ab, erhebt sich zur anderen Seite ein imposantes, an ein Gewächshaus oder ein Luftschiff erinnerndes abstraktes Gebilde. Betritt man die stählern-gläserne Raumhülle mit ihrer netzartigen sich über ovalem Umriss erhebenden parabolischen Tragstruktur findet man sich erneut – wie zuvor auf dem kleinen Aussichtspunkt – einem himmlischen Stimmungsbild gegenüber; dieses Mal jedoch eingefangen in verdichteter Weise durch das Netz der Architektur.

Das eindrucksvolle, die topografische Schwelle zur Weite thematisierende abstrakte Bauwerk wurde vom seinerzeit in Dortmund praktizierenden Architekten Peter Grund in einer Arbeitsgemeinschaft mit dem die Beratungsstelle für kirchliche Kunst vertretenden Pfarrer Paul Girkon und der Glasmalerin Elisabeth Coester als Kirche für 900 Gläubige konzipiert.

Als Machbarkeitsstudie beauftragt sollte das Bauwerk die Einsetzbarkeit neuer Bauweisen mit Werkstoffen wie Stahl und Glas für den evangelischen Kirchenbau untersuchen. Die Modellkirche wurde in verschiedenen Größenvarianten erdacht und 1929 im Rahmen der Ausstellung »Der neue evangelische Kirchenbau« im Museum Folkwang in Essen (#Die Essener Kirchenbauausstellung von 1929 im Kontext) einer breiten Öffentlichkeit präsentiert.

Unter dem imposanten Himmelsgewölbe zeigt sich der erklommene Hügel als große hangartige, amphitheatralisch angelegte Topografie. Die aus Backsteinen erbauten terrassenartigen Emporen mit den darüber lagernden aus Holz erstellten Sitzbänken erzeugen eine Atmosphäre erdgebundener Stofflichkeit. Von der Höhe des Eingangspodestes gräbt sich axial ein Weg in das architektonische Massiv zur tiefsten, den Taufstein beherbergenden Stelle des Raumes hinab, um von dort aus stufenartig zum gipfelnden Altar mit dem aufgestellten, den irdischen Höhepunkt markierenden großen Kreuz, hinaufzusteigen. Das sich aus den Rändern des Hügels erhebende Himmelsgewölbe überspannt die »irdisch-diesseitige Wirklichkeit« mit einem auf eine entmaterialisierte Wirkweise bedachtes, aus schlanken Streben konstruiertes Netzgewebe. »Lamellen« nennt der Entwurfsverfasser die statisch wirksamen Stäbe, die – in verzinkter Form nach einem von Emil Hünnebeck entwickelten System zur Ausführung kommend – dem Modellbau den Namen »Lamellenkirche« bescherten.

Transparente Atmosphären

Das Raumtragwerk erinnert an eine Hülle, wie sie der anlässlich der Weltausstellung Expo 67 in Montreal von Buckminster Fuller als transparente geodätische Kuppel entworfene US-amerikanische Pavillon »Biosphère« darstellt. Fuller zielt darauf ab, eine Sphäre maximal durchsichtiger physischer Transparenz zu erzeugen. Die Entmaterialisierung der Tragstruktur ist bei ihm Teil einer Strategie eines möglichst barrierefreien direkten visuellen Bezugs zur Außenwelt. Der Lamellenkirchenentwurf hingegen setzt nicht auf die durchsichtigen, sondern die durchscheinenden Eigenschaften des Glases. Die in der Innenraumperspektive zunächst als eine sich zum Himmel unmittelbar und durchsichtig öffnend erscheinende Transparenz erweist sich bei näherer Betrachtung als weit komplexer. Auf den Oberflächen der durch das Netzgewebe gehaltenen Glassegmente werden flammenartige Texturen ersichtlich, die Teil einer von der Glasmalerin Elisabeth Coester für das Kirchengewölbe der Modellkirche konzipierten Arbeit sind. Durch die parabolische Anordnung im Raum wirken die bemalten Glassegmente der Künstlerin, als entzündeten sie das Himmelsgewölbe flammenartig von den Rändern des Hügels zum Himmel hinauf. Als »Wölbung aus lohenden Farbfeuern« beschrieb Girkon diesen Effekt, evoziert durch die entmaterialisierte transluzente glasbemalte räumliche Hülle.

Die Netzstruktur übernimmt nicht nur die Rolle der primären Tragstruktur, sondern definiert die Raumhülle, ist Trägerin des Kunstwerks sowie einer Transparenz, die nicht enthüllend wirken möchte, sondern eher darauf bedacht ist, das Göttliche und den Himmel diaphan im Kirchenraum durchscheinen zu lassen.

Die derart geistig-transzendental begriffene Form der Transparenz erinnert an die diaphane Atmosphären, wie sie Bruno Taut in seinem für die Werkbundausstellung 1914 in Köln erbauten Glaspavillon erzeugte. Der als Ausstellungspavillon für die Glasindustrie konzipierte Bau stand unter dem Einfluss der gläsernen Architekturphantasien Paul Scheerbarts und diente keinem weiteren Zwecke als der Zurschaustellung einer gläsernen Welt. Taut facht die rautenförmigen, sich durch die Betonrippen der netzartigen, nach oben spitz zulaufenden und damit die Kuppelkonstruktion definierenden Flächen, mit farbigen Doppelglaswänden aus. Durch den Einsatz von Luxfer-Prismen und Glas in unterschiedlichen Färbungen wird eine Atmosphäre, die auf Reflexionen und farbig diaphane Wirkungen ausgelegt ist, erzeugt. Auch hier erhebt sich die Glashülle über einem massiven, im konkreten Fall doppelt gekrümmten und aus Beton ausgeführten, begehbaren Sockel. Bruno Tauts Glaspavillon antizipiert eine vergeistigte aus Glas erträumte Welt, wie sie die Mitglieder der Gläsernen Kette in ihrer regen Korrespondenz und den zu Papier gebrachten Visionen einer kristallinen, lichtbrechenden, reflektierenden, aus klarem und gefärbtem Glas erbauten Welt erdachten. Auch das Bauhaus bezog sich in seinen Anfängen noch auf diese Form kristalliner Transparenz, bevor es sich einer vornehmlich durchsichtigen Auslegung widmete. Das 1919 erschienene Bauhaus Manifest zeigt einleitend Lyonel Feiningers Holzschnitt »Kathedrale« und setzte mit einem Motiv von drei über den Spitzen von Kirchtürmen schwebenden in alle Richtungen des Raumes strahlenden Sternen, auf eine vergeistigte, auf das Reflexionsverhalten von Licht im Raum bedachte Transparenz.

Vom Hoffnungsträger zum Ort des Bedrohlichen

Mit Beginn der Nazidiktatur werden in Deutschland die transparenten Traditionen der Moderne gewaltsam unterbrochen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird zudem mit zunehmender Aufrüstung das hoffnungstragende Himmelsgewölbe zum Ort des Bedrohlichen verkehren. Mit dem Einsatz neuer, den Himmel vereinnahmender Kriegsmaschinen beansprucht der Krieg in zuvor ungekannter Weise alle Dimensionen des Raumes. Mit aus Kampfflugzeugen abgeworfenen Fliegerbomben lassen sich in Jahrhunderten erbaute Städte in Minuten auslöschen. Allein die Massivität der Luftschutzkeller und Bunker jener Zeit scheinen der Zivilbevölkerung einigermaßen Schutz zu bieten. Die nachhaltigen Auswirkungen, die dieser allumgreifende Krieg in der Rezeption des Raumes hinterlassen wird, verarbeitet der französische Philosoph Paul Virilio in mehreren Schriften (#Archetypische Refugien in einer dachlosen Welt). Anstoß sollte ihm ein Bunker geben, dem er zufällig bei einem Strandspaziergang 1957 begegnet. Der durch die deutsche Besatzungsmacht erbaute Bunker war Teil des Atlantikwalls. In Erwartung eines alliierten Angriffs wurden entlang der französischen Atlantikküste im Rahmen der Operation Todt punktuell Bunker erbaut, die zum Teil nur Schutzräume für einzelne Soldaten boten. Es war der Versuch, einem nunmehr dreidimensional geführten Krieg mit den Mitteln einer bodenbehafteten und fragmentierten Festung zu begegnen. Fasziniert von diesem archaisch wirkenden Objekt, positioniert an der Demarkationslinie von Festland und Meer, wird Virilio in mehreren Kampagnen diese massive materielle Hinterlassenschaft der Besatzungsmacht entlang des Walls untersuchen und letztendlich kartieren. Die Bedeutung des Schutzraumes dieser Bauten begründet Virilio nicht nur über deren, die aus dem Himmel kommende Zerstörungskraft abwehrenden, massiven Hüllen. Der allumgreifende Krieg versetzt auch die Erde in bedrohliche Bewegung, die nicht mehr »die gute Heimstätte«, sondern eine »aleatorische«, den Meeresweiten verwandte Ebene darstellt. In einer derartig fluiden Welt ohne Halt bietet die Betonblockbauweise nicht nur Schutz vor den aus dem Himmel einschlagenden Bomben. Ohne wirkliches Fundament und aus allseitig umhüllender dickwandiger Massivität erbaut, stellt der Bunker eine moderne Überlebensmaschine dar, die auch in einem derart fluiden Terrain Schutz bietet. Dabei weicht er mit seiner aerostatischen Form von den Bewegungen des Grundes ab. Durch die Betonblockbauweise, die den Zusammenhalt des Materials garantiert, setzt er auf die ausgleichende Wirkung seines Schwerpunkts anstatt auf eine im Boden verankerte Gründung.

Schutzbietende Wehrhaftigkeit

Die schutzbietende Wehrhaftigkeit des Bunkers wird der sakrale Raum nach dem Weltkrieg in vielen Konzeptionen aufgreifen. Le Corbusier realisiert 1955 die Wallfahrtskirche Notre-Dame-du-Haut in Ronchamp, in der viele zeitgenössische Kommentatoren, unter ihnen auch Virilio, einen modernen Kirchenraum mit bunkerartigen Reminiszenz erkennen. Ein Beispiel aus dem Ruhrgebiet, das diese Eigenschaften in ästhetisch ausdrucksstarker Weise verhandelt, ist die 1969–1971 von Hanns Hoffmann erbaute Evangelische Friedenskirche in Herten-Disteln. Der Entwurf sieht im Grundriss eine runde, sich über einen Polygonzug zusammenschließende Form vor, über welcher Stahlbetonwände in der Anmutung eines steilen vertikalen Felsens extrudiert werden, die das Kirchschiff beherbergen. Indem Hoffmann die polygonale Grundform im Grundriss in Wandscheiben auflöst und sie freistellt, lässt er die Wände im Aufriss wie überlappende massive Schalen wirken. Im Innenraum erzeugt die versetzte Anordnung der Wände den Eindruck, der felsartige Monolith sei durch das Licht schalenartig aufgebrochen worden. Die unsichtbaren zwischen den Wandsegmenten eingelassenen Glasflächen geben durch das seitlich über die gesamte Höhe einstrahlende Licht die massiv ausgeführten Wände entmaterialisiert wieder. Eine selten durchscheinende transparente Stimmung setzt ein, die den wehrhaften Monolithen, wie das untere Motiv auf dem Kontaktabzug zeigt, in seinem Inneren erhaben wirken lässt.

Diaphane Aura

Auf eine ähnliche, wie bei Grunds Lamellenkirchenentwurf durch die Einbeziehung des Himmels erzeugte Transparenz, setzt auch Toni Hermanns mit dem Entwurf für die 1961 eingeweihte Liebfrauenkirche in Duisburg (#Miniatur Kulturkirche Liebfrauen). Der Architekt versieht das aus Beton hergestellte Kirchenschiff mit zwei großen, sich fast über die gesamte Länge der Seitenwände erstreckenden Öffnungen, in die er eine leichte, aus glasfaserarmiertem Plexiglas konstruierte Faltwerkwand hineinsetzt. Von außen und bei Tageslicht wirkt die große transluzente Fensteröffnung bemerkenswerterweise, als sei sie ein aus Beton gegossenes Bauteil. Bei Nacht und eingeschaltetem Licht im Kirchenschiff umgibt die Kirche eine transluzente Aura, die in den Stadtraum hineinstrahlt. Die Überlagerung des Himmels mit durchscheinendem Plexiglas erzeugt im Kirchenraum eine besondere sublime Atmosphäre. Die Stimmungen des Himmels sind durch das filternde Faltwerk stets präsent und erwecken den Eindruck, als würde das Kirchenschiff im himmlischen Medium schwimmen.

Die hier besprochenen Archivalien spiegeln die Thematisierung der Transparenz im sakralen Raum seit Beginn des 20. Jahrhundert und die Versuche, diese mit den Mitteln der Architektur auszudrücken, wider. Im Gegensatz zu profanen Beispielen erscheint der Einsatz von eindeutiger und durchsichtiger Transparenz, wie sie in einigen Nachkriegskirchenbauten zur Anwendung kam, eher den Eindruck des Aufreißens der kirchlichen Wand zu befördern. Im Gegensatz dazu lässt eine mit tranzluzenten oder plastischen Mitteln erzeugte Transparenz den Raum in diaphane Beziehungen zum Göttlichen Licht und zum Himmel treten.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): Religion@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2021, S. 246–261.