Kommunale Monumentalität
Rathäuser und Plätze in den Städten des Ruhrgebiets

Wolfgang Sonne

Wenn es eine zentrale Bauaufgabe gibt, die sich vorrangig zur Repräsentation des städtischen Gemeinwesens eignet, so ist es die des Rathauses. Seit dem frühen Mittelalter prägen Kirchtürme und Stadtmauern das Bild der Stadt und ihre Silhouette. Im hohen Mittelalter gesellt sich in Europa das Rathaus als Monument der mächtiger und selbständiger werdenden Kommunen dazu. Als florierende Region mit Hansestädten und freien Reichsstädten am Hellweg hat auch das Ruhrgebiet seinen Anteil an dieser Entwicklung.

Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt dann im Zuge der Industrialisierung der Ausbau der Städte und Dörfer im Ruhrgebiet zu Großstädten – ein Prozess, der in verschiedenen Schüben und unterschiedlichen Facetten bis heute anhält. Charakteristisch für diesen Prozess ist nicht allein die ungeheure Ausdehnung der Stadtflächen verbunden mit einem entsprechend ungeheuren Anstieg der Bevölkerung, sondern auch die Differenzierung des Stadtlebens durch vielfältige neue Institutionen und dementsprechende Bauaufgaben. Gerade auch die Architektur sollte mit ihrer absichtsvoll urbanen Prägung eine großstädtische Atmosphäre schaffen – nicht zuletzt mit der zentralen Bauaufgabe des Rathauses mit Stadtplatz.

Welcher Stellenwert der Tätigkeit der Kommunen bei der Gestaltung der modernen Großstadt seinerzeit eingeräumt wurde, verdeutlicht Karl Scheffler in seinem Buch »Die Architektur der Großstadt« von 1913: »Eine solche Ausgestaltung der latenten Großstadtidee fordert allerdings eine Bevölkerung, deren Bewusstsein tief durchdrungen ist von ihrer historischen Mission; sie fordert Stadtverwaltungen, die sich von einem selbstherrlichen Zielwillen größten Stils leiten lassen und Staatsregierungen, die nicht gegen die Großstadt regieren, sondern mit ihr eng verbündet. Ohne eine monumentalische Ausgestaltung des Selbstverwaltungswesens […] kann es nicht einmal einen Anfang bedeutender Art geben.«

Unmittelbarer baulicher Ausdruck dieses Selbstverwaltungswesens waren die Rathäuser der wachsenden Großstädte. Ganz praktisch benötigten die stark zunehmenden Verwaltungen größere Flächen; zugleich aber benötigten sie eine neue Qualität der Repräsentation im Stadtraum, um ihrer neuen Rolle öffentlichen Ausdruck zu verleihen. So gaben sich die Städte des Ruhrgebiets als Großstädte ein neues monumentales Herz. Sie bauten repräsentative Rathäuser mit Plätzen.

Es war geradezu typisch für das öffentliche Bauen der Kommunen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, dass sie sich nicht allein mit neuen Rathäusern öffentliche Monumentalbauten schufen, sondern diese oftmals mit einer Platzanlage verbanden und so den Stadtraum mitgestalteten: Öffentlicher Raum und öffentlicher Bau waren Bestandteile derselben Aufgabe. Besonders in den aufstrebenden Industriestädten des Ruhrgebiets, die teilweise keine entsprechende historische Rathaus-Platz-Figuration besaßen, ist diese geplante Neuformulierung kommunaler Öffentlichkeit durch die Anlage von Rathaus und Platz zu beobachten. Diese kommunale Monumentalität begann bereits im Kaiserreich, setzte sich – oftmals in direkter Projektkontinuität – in der Weimarer Republik fort und fand mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 ein jähes Ende: demokratisch legitimierte Stadtorganisationen sollten im Führerstaat keine Rolle mehr spielen. Gerade diese Rathaus-Platz-Anlagen stellen also bemerkenswerte Beispiele einer Tradition der öffentlich-monumentalen Repräsentationsarchitektur dar, die demokratischen Gemeinwesen diente, durch den Nationalsozialismus beendet und nur zögerlich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgegriffen wurde.

Rathäuser in den großen Städten am Hellweg

Die Geschichte der Rathausbauten der modernen Großstädte im Ruhrgebiet im Zeitalter der Industrialisierung lässt sich nicht erzählen, ohne die Rathausbautraditionen des Mittelalters und der frühen Neuzeit mit darzustellen. Zwar bilden mittelalterliche Rathäuser in allen großen Städten am Hellweg heute eine große Leerstelle: abgerissen 1840 in Essen, 1843 bzw. 1944 in Duisburg, 1862 in Bochum und 1955 in Dortmund. Aber nicht selten war der Bezug auf die kommunale Geschichte des Mittelalters ein zentrales Motiv der Großstadtentwicklung und der Rathausbauten gerade im Zeitalter der Industrialisierung.

Paradigmatisch steht hierfür die Geschichte der Dortmunder Rathausbauten. Dortmund war im Mittelalter nicht nur die größte und bedeutendste Stadt der Region, sondern sie besaß auch eines der ersten repräsentativen Rathäuser im damaligen Reich nördlich der Alpen. Seinen gerne verkündeten Rang als »ältestes steinernes Rathaus Deutschlands« verdankt es wohl der prominenten Darstellung in Otto Stiehls großer Monographie zum deutschen Rathaus im Mittelalter von 1905. Dort wird es am Anfang des Buches als »das älteste der noch bestehenden Rathäuser« behandelt, einen Status, den es heute leider nicht mehr beanspruchen kann.

Am Dortmunder Rathaus, das vor 1241 zunächst als Sitz des Grafen von Dortmund errichtet wurde, bevor es kurz danach vom Stadtrat übernommen wurde, lässt sich die Entstehung des baulichen Typus des Rathauses in Deutschland gut nachvollziehen. Rathäuser wurden erst möglich, nachdem sich die Städte im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts durch ihre wirtschaftliche Stärke schrittweise von der Herrschaft der Bischöfe oder Lehnsherren befreien konnten und eigene Rechte von diesen oder dem Kaiser zugesprochen bekamen. Gemessen an Kirchen, Burgen und Pfalzen sind Rathäuser für das Mittelalter ein neuer repräsentativer Bautypus.

Dabei sind die multifunktionalen Anforderungen in einen kompakten Quader gepackt, der mit einem Satteldach gedeckt ist. Im Erdgeschoss befindet sich hinter Lauben für die Rechtsprechung ein großer Raum, der dem Handel dient. Im Obergeschoss liegt ein großer Saal für die Ratsversammlungen. Treppen liegen außen am Bau, was die einzelnen Geschosse unabhängig voneinander nutzbar macht und Möglichkeit der Verkündung von Ratsbeschlüssen oder Gerichtsurteilen bietet. Wie alle folgenden Rathäuser steht es als dominanter Bau am Marktplatz, dem es sich mit seiner Schmalseite und seinem Giebel die Schauseite zuwendet. Als giebelständiges Haus nimmt es den Bautyp des Bürgerhauses auf, das sich gewöhnlich auf einer schmalen Parzelle in die Tiefe des Blocks erstreckt und sich mit einer bisweilen imposanten Giebelfassade präsentiert. Das Dortmunder Rathaus zeigt sich somit als »primus inter pares«, wobei es seine Besonderheit nicht allein durch seine Steinarchitektur im Unterschied zum Fachwerkbau der Bürgerhäuser, sondern auch durch die Übernahme sakraler Ornamentik etwa in den maßwerkgefüllten Blendbögen demonstriert.

Doch das Dortmunder Rathaus war nicht allein für die mittelalterliche freie Reichs- und Hansestadt sowie die Geschichte des Rathausbaus in Deutschland von großer Bedeutung. Es erlangte noch einmal Prominenz als Nukleus und Bezugspunkt der sich zur Großstadt entwickelnden Industriestadt. Nachdem das Rathaus im 19. Jahrhundert bereits mehrfach abgerissen werden sollte, um einem größeren Neubau Platz zu machen, gelang es dem Stadtbaumeister Friedrich Kullrich, mit einer groß angelegten Kampagne das Haus zu retten, indem er an anderer Stelle das heute noch vorhandene Stadthaus als Erweiterungsbau errichtete. Das alte Haus, das in der Zwischenzeit einen kleinen Erweiterungsbau erhalten hatte und dessen baufälliger Giebel im 18. Jahrhundert barockisiert worden war, richtete Kullrich pünktlich zum Kaiserbesuch 1899 nach eigenem Entwurf mit Treppengiebeln und Maßwerkfenstern her. Als ein mit großer Anstrengung konstruiertes »Mittelalter« wurde das alte Dortmunder Rathaus somit zum Ausgangspunkt der modernen Großstadt im Industriezeitalter. Daran erinnert heute im Stadtbild nur noch eine bescheidene Plakette, die zudem noch an der falschen Stelle hängt.

Zeitgleich mit der Renovierung und Teilrekonstruktion des alten Rathauses schuf Kullrich mit dem Stadthaus als Rathauserweiterung den zusätzlichen Raum für die gestiegenen Anforderungen der Stadtverwaltung einer Großstadt und mit dem repräsentativen Neorenaissancegiebel an der südlichen Einfallstraße der Stadt auch einen neuen Schaupunkt im Stadtbild. Im 20. Jahrhundert setzte sich die Rathaus-Baugeschichte mit wachsenden Ansprüchen fort. Kullrichs Stadthaus wurde 1928 von Wilhelm Delfs erweitert durch einen massiven Backsteinbau mit geböschtem Natursteinsockel, dessen Turm zugleich Rathausturm und Bürohochhaus ist. Südlich des Alten Stadthauses entstand nach dem Zweiten Weltkrieg 1954 das Neue Stadthaus von Dietrich Gerlach, das als zehngeschossiges Zeilenhochhaus am Wall und der neu durchgebrochenen Kleppingstraße die Stadtbesucher grüßt. Zwischen beiden Bauten vermittelt seit 2002 die gläserne Berswordthalle. Das Ensemble liegt am erst 1989 geschaffenen Friedensplatz, der dank seiner anliegenden Bauten heute Dortmunds eigentlicher Rathausplatz ist. Ehemals bebaut, erhielt die Kriegsbrache erst mit dem Neubau des Rathauses von Dieter und Ulrike Kälberer 1980–89 ihre Form als städtischer Platz. Gestaltet mit exakt denselben Maßen und Formen wie der Rathausbau selbst signalisiert der Platz somit demonstrativ seine Zugehörigkeit zum Rathaus und damit die Einheit von öffentlichem Bau und öffentlichem Raum. Mit seinem zeichenhaften Torgerüst bildet der sandsteinverkleidete Kubus des Rathauses die westliche Begrenzung des Platzes. Am Friedensplatz stehen somit heute fünf Rathausgebäude, die über einen Zeitraum von gut 100 Jahren entstanden sind. Das mittelalterliche Rathaus am Alten Markt hatte man allerdings trotz seiner Bedeutung als ältestes erhaltenes Rathaus nördlich der Alpen 1955 als Kriegsruine sang- und klanglos abgerissen.

Von mehrfachen Abrissen ist auch die Geschichte der Essener Rathausbauten geprägt. Nachdem die Bürgerschaft im Schatten des Essener Stifts schrittweise eigene Rechte erhalten hatte, ist erstmalig eine »domus consulum« in einer Urkunde 1301 erwähnt. Dieses Rathaus lag mit seiner Längsseite am Marktplatz und folgte als zweigeschossiges Haus mit der Aufteilung von Markthalle im Erdgeschoss und Ratssaal im Obergeschoss dem gewöhnlichen Typus. Nach einer Umbauplanung wurde der mehrfach erweiterte mittelalterliche Bau 1840 abgerissen und 1842 durch einen klassizistischen Neubau ersetzt. Mit großen Ambitionen als eines der ersten großen Rathausprojekte des Kaiserreichs wurde dann 1874 ein Wettbewerb für einen Rathausneubau veranstaltet, der 1878–1884 von Peter Zindel und Julius Flügge errichtet wurde, wobei auch das gerade erst erbaute klassizistische Rathaus wieder abgerissen wurde. Der Neubau in neugotischen Formen nahm wie viele Rathäuser im Kaiserreich wiederum Bezug auf das Mittelalter – allerdings weniger auf die konkrete lokale Tradition, sondern eher auf eine ideale vergangene Epoche. Dieses imposante typusprägende Stadtmonument am Marktplatz mit seinem Turm an der Ecke wurde zwar im Krieg teilzerstört, danach aber bis 1956 wieder aufgebaut und um einen neuen Flügel erweitert.

Grotesk nimmt sich vor diesem Hintergrund die weitere Geschichte des Gebäudes aus: Keine zehn Jahre später wurde das Grundstück in einem Akt des Ausverkaufs der Stadtgeschichte an die Warenhaus Wertheim GmbH veräußert und das Rathaus 1964 abgerissen. In Folge dieser Posse saß der Rat nun ohne Rathaus da: Zwar war bereits 1963 ein Wettbewerb für einen Rathausneubau veranstaltet worden, doch der Neubau nach den Plänen von Theodor Seifert wurde nach mehreren Überarbeitungen erst 1974–79 fertiggestellt. Seitdem hat Essen zwar das höchste Rathaus Deutschlands – das aber als gesichtsloses Bürohaus in Anlehnung an die Architektur Mies van der Rohes auf jegliche signifikante Gestaltung verzichtet und somit im Konzert der privaten Bürohochhäuser untergeht. So kann es durchaus als Menetekel gedeutet werden, dass radikale Modernisierung sowie absichtsvolle Geschichtslosigkeit auch keine Lösung für eine moderne Stadtidentitätsbildung sind.

Auch die Geschichte der Duisburger Rathausbauten ist von Verlusten geprägt. Die 1361 für die damals schon nicht mehr freie Reichsstadt Duisburg urkundlich bezeugte »domus consulum« befand sich in einem Gebäude, das aus der königlichen Pfalz am heutigen Burgplatz hervorgegangen war. Ende des 13. Jahrhunderts war zudem bereits eine Markthalle am Marktplatz errichtet worden, die Anfang des 14. Jahrhunderts mit einem gleichartigen Baukörper erweitert wurde. Mit ihrem längsrechteckigen Baukörper mit Kaufhalle im Erdgeschoss und Versammlungssaal im Obergeschoss sowie beidseitigen Treppengiebeln entsprach sie der mittlerweile etablierten Rathaustypologie. Auch die Erweiterung durch das Andocken eines weiteren Baukörpers war typisch für die Rathausentwicklung im späten Mittelalter. Das nach einem Wettbewerb 1895 von Friedrich Ratzel 1897–1902 am Ort des alten Rathauses errichtete neue Rathaus nimmt mit seinen Treppengiebeln ein Motiv der benachbarten mittelalterlichen Markthalle auf, deren Reste nach der Zerstörung 1944 beseitigt wurden. An sie erinnert heute eine nach den Ausgrabungen von 1980 errichtete Umrissskulptur. Mit seinen romanischen, gotischen und Renaissanceformen spiegelt der Bau von Ratzel gleichsam eine historische Entwicklungsgeschichte vor, mit der sich die aufstrebende Großstadt an Stelle eines tatsächlichen historischen Bauwerks schmückt. Trotz Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg wurde das Rathaus in der Nachkriegszeit wiederhergestellt und in vereinfachten Formen ergänzt. Somit hat Duisburg heute noch mit seinem Rathaus mit Turm und Giebel ein imposantes Monument kommunaler Gestaltung aus der Zeit der Industrialisierung und des Historismus.

Die Bochumer Rathausbauten erzählen ebenfalls eine Geschichte von Ersatz und Neubau. Bochum erlangte erst spät als Teil der Grafschaft Mark im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts Stadtrechte, ein Rathaus ist 1461 urkundlich belegt. Das nach Bränden im 16. und 17. Jahrhundert jeweils erneuerte Gebäude stand wie alle Rathausbauten des Mittelalters am Marktplatz, zu dem es sich im Erdgeschoss mit einer Bogenhalle öffnete. Es wurde 1862 für den Abriss verkauft. Als strenger Verwaltungsbau in steinerner Monumentalität präsentiert sich das neue großstädtische Rathaus, das 1926–31 von Karl Roth errichtet wurde. Auch hier war wieder ein Wettbewerb vorausgegangen; die Stadt aber beauftragte den beim Rathausbau in Wuppertal-Barmen so erfolgreichen Architekten Roth mit der Planung. Auch dieser Bau bildet durch das Zurücktreten von der Blockecke wieder einen Vorplatz aus, der dem städtischen Repräsentationsbau die entsprechende Bühne verschafft. Drei große und schlichte Bögen laden zum Betreten des öffentlichen Hofes nach dem Vorbild des Stockholmer Rathauses ein. Ganz sachlich verzichtet der Bau auf einen stadtbildprägenden Turm; nur ein kleiner Dachreiter erinnert im Hof an dieses bauaufgabentypische Bauelement.

Mittelalterliche Rathäuser

Trotz dieser Verlustgeschichte der mittelalterlichen Rathausbauten der großen Hellwegstädte sowie der mittelalterlichen Rathausbauten von Hamm, Unna, Lünen, Recklinghausen, Dorsten oder Xanten ist das Ruhrgebiet heute keineswegs frei von mittelalterlichen Rathäusern. In den kleineren Städten nördlich und südlich des Hellwegs haben sich eine Reihe von Rathäusern erhalten, die aus dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit stammen und zumeist die Bautypen und Bauformen der früheren mittelalterlichen Rathäuser fortführen.

Das älteste ist das Rathaus in Rheinberg, durch eine Inschrift auf das Jahr 1449 datiert. Trotz mehrfacher Renovierungen und Umbauten ist es in seinen Grundzügen erhalten. Als freistehender rechteckiger dreigeschossiger Kubus am Marktplatz, mit einem Walmdach gedeckt und ursprünglich einem umlaufenden Zinnenfries geschmückt, betont es – im Unterschied zu den giebel- oder traufständigen Bauten – seine körperhafte Eigenständigkeit. Wie das kurz zuvor 1438–46 im ebenfalls niederrheinischen Kalkar errichtete Rathaus folgt es auch mit seinen kolossalen Blendarkaden und seinem Turm flämischen Vorbildern wie etwa den Rathäusern in Brügge oder Gent. Turm und Zinnen sind dabei wiederum Architekturmotive der Burgenarchitektur, die etwa bei den Rathäusern in Siena und Florenz um 1300 als Herrschaftssymbole Verwendung gefunden hatten, die wiederum durch enge Handelsbeziehungen in den flämischen Städten bestens bekannt waren. Das Rheinberger Rathaus ist übrigens das einzige mittelalterliche Rathaus im Ruhrgebiet, das einen Turm besitzt. Der auch im heutigen Verständnis noch als typisch angesehene Rathausturm war jedoch im mittelalterlichen Rathausbau in Deutschland kaum verbreitet. Er erlebte seinen typusbildenden Aufschwung erst mit den Rathausneubauten der wachsenden Industriestädte des Kaiserreichs, die sich vor allem an den imposanten Beispielen des mittelalterlichen Flandern orientierten und den Turm als architektonisches Mittel gebrauchten, um auch in einer Großstadt eine stadtweite Sichtbarkeit und Dominanz zu erreichen.

Ebenfalls flämischen Vorbildern folgt das Rathaus in der unweit am Rhein gelegenen Hansestadt Wesel. Hier wurde jedoch weniger der Bautyp als vielmehr die Bauornamentik in prägender Weise übernommen. 1455 setzte man vor das in einer Häuserzeile am Marktplatz stehende ältere Rathaus eine neue einheitliche symmetrische Fassade in Formen der flämischen Spätgotik. Diese Fassade mit ihrem das Dach verdeckenden horizontalen Abschluss – wegen ihres Vorsatzcharakters auch Tafelfassade genannt – war im mittelalterlichen Rathausbau wie etwa in Lübeck oder Stralsund ein durchaus verbreitetes Verfahren, um den sich sukzessive aus Einzelbauten bildenden Rathäusern ein einheitliches Erscheinungsbild zum Marktplatz hin zu geben. Signifikant ist beim Weseler Rathaus die Übernahme kirchlicher Bauelemente wie Maßwerkfenster und Fialen, die insbesondere den krönenden Abschluss bilden. Der Sinn war hier weniger eine Sakralisierung des Profanbaus, sondern eher eine Nobilitierung durch die Anwendung hochrangig konnotierter Bauformen, wie sie ebenfalls die bereits genannten Rathäuser in Lübeck, Stralsund und Brüssel, aber auch die mit dem Giebelmotiv arbeitenden Rathäuser in Dortmund und Münster prägte. Den Turm erhielt das Weseler Rathaus erst beim stilkonformen seitlichen Anbau eines Treppenhauses 1700. Im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, wurde die Fassade erst 2010–11 rekonstruiert. Durch ihre didaktischen Abstände zu den Nachbarhäusern und dem gläsernen Hinterbau erscheint sie nun mit allzu deutlichem Fingerzeig als Rekonstruktion ausgewiesen. Eine solchermaßen ästhetische Musealisierung wäre eigentlich gar nicht nötig gewesen, war doch bereits die Originalfassade nur Fassade vor bestehenden Bauten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtete die Stadt Wesel den Rathausbau als einen Neuanfang. Das mittelalterliche Rathaus wurde zunächst nicht wiedererrichtet, sondern an der Hohen Straße an Stelle der zerstörten Mathenakirche ein Neubau konzipiert. Dieser 1952–58 nach den Plänen von Fritz G. Winter ausgeführte Bau zeigte sich mit seinem markanten Eckturm als selbstbewusster Vertreter des Rathaustypus. Seine Betonrasterfassade nahm die Architektur Auguste Perrets wie etwa bei dessen Rathausneubau in Le Havre auf. Trotz dieses repräsentativen Auftritts und seiner hochwertigen Innenausstattung fiel das neue Rathaus bereits 1971 einem Kaufhausneubau zum Opfer. Die Stadt baute sich stattdessen 1970–74 nach den Plänen von Hentrich Petschnigg & Partner ein weiteres neues Rathaus am Kornmarkt. Zwar erhielt der Ratssaal als achteckiger Baukörper eine besondere Ausprägung, doch konnte das Ensemble aus unspezifischen Bürohausscheiben keine signifikante Wirkung entfalten.

Das 1512–14 an Stelle eines Vorgängerbaus errichtete Rathaus in Werne ist ein später Vertreter des seinerzeit bereits seit drei Jahrhunderten verbreiteten Rathaustypus des rechteckigen Baukörpers mit Verkaufshalle und Lauben im Erdgeschoss sowie Ratssaal im Obergeschoss. Der Werner Bau steht wie auch seine Dortmunder und Münsteraner Vorbilder mit der Giebelseite zum Marktplatz; im Unterschied zu diesen prominenteren Bauten verzichtet er jedoch gänzlich auf nobilitierenden Fassadenschmuck. An Stelle der oberen Stufen des bereits angesetzten Stufengiebels erhielt der Bau 1561 einen Dreiecksgiebel als Abschluss. Als Steinbau zwischen Fachwerkhäusern vermag er noch heute die stattliche Wirkung auch der älteren verlorenen Rathäuser im Ruhrgebiet anschaulich zu vermitteln.

Demselben Bautyp mit Arkaden im Erdgeschoss und Ratssaal im Obergeschoss, aber traufständig mit der arkadenbestandenen Schauseite an der Längsseite des Baukörpers, folgen die Rathäuser in Schwerte und Haltern am See. In ungewöhnlicher Weise richtet das 1547–49 erbaute Schwerter Rathaus seine Schauseite nicht zum Markt, sondern zur tangierenden Straße hin aus. Seine Seite zum Marktplatz weist aber neben einem schmucklosen, jedoch prägnanten Treppengiebel auch zwei Arkaden auf, deren spitzbogige Ausprägung zusammen mit dem Treppengiebel das traditionelle mittelalterliche Rathausbild vermittelt. Genau andersherum verhält sich das 1575–77 errichtete und nach Kriegszerstörungen vereinfacht wiederaufgebaute Rathaus von Haltern am See: Seine Schauseite zeigt sich traufständig mit Arkaden zum Marktplatz hin, während zur seitlichen Straße eine Folge von Giebeln die einzelnen, sukzessive entstandenen Baukörper markiert.

Das Rathaus in Hattingen schließlich ist als Fachwerkbau im Ruhrgebiet eine Ausnahme. Sein steinernes Erdgeschoss bildete eine am Marktplatz gelegene Halle für den Fleischhandel. 1420 erhielten die Bürger der Stadt vom Grafen von der Mark das Recht, diese Halle für die Nutzung als Rathaus aufzustocken, was schließlich erst 1576 geschah. Der damals errichtete Spitzgiebel zum Marktplatz wurde Ende des 18. Jahrhunderts abgetragen und durch ein Walmdach ersetzt, wodurch das mittelalterlich wirkende Gebäude eine moderne klassizistische Anmutung erhielt. In seiner schrittweisen Baugeschichte vermag das Hattinger Rathaus sehr schön die für den mittelalterlichen Rathaustypus prägende Verbindung von Verkaufshalle mit Ratssaal und Gerichtslaube zu verdeutlichen. Als ein Neubau kam für die wachsende Industriestadt Hattingen 1909–10 das von Christoph Epping entworfene Rathaus am neuen Rathausplatz nördlich der Altstadt hinzu. In malerischer Eckhauskomposition vertrat es mit seinen hochaufragenden Renaissancegiebeln und seinem dominanten Turm einen im Kaiserreich weit verbreiteten Typus, mit dem sich viele Städte einen öffentlichen Repräsentationsbau mit Bezug auf ihre mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte erstellten.

In Hattingen kann man somit den für die Städte im Ruhrgebiet durchaus typischen Sprung vom repräsentativen Rathausbau des Mittelalters zum repräsentativen Rathausbau der Moderne nachvollziehen. Allerdings waren auch das 17. bis frühe 19. Jahrhundert nicht gänzlich »rathausfrei«. Mehrere Rathäuser wurden renoviert oder es entstanden an ihrer Stelle barocke bzw. klassizistische Neubauten. Da diese meist kleinen und bescheidenen Häuser im Laufe der industriellen Großstadtwerdung wie in Bochum, Hamm, Essen oder Lünen ihrerseits beseitigt wurden, ist von dieser historischen Schicht der Städte heute fast nichts mehr zu erleben. Nur in Dorsten etwa zeigt das Rathaus von 1567 die vor kurzem restaurierte Form von 1797.

Rathäuser der industriellen Großstädte im Kaiserreich

Mit dem Rathauswettbewerb in Essen 1874 begann dann für die durch die Industrialisierung rasant wachsenden Städte des Ruhrgebiets ein Rathausbau-Boom, der Teil der überall im Kaiserreich neu errichteten monumentalen Großstadt-Rathäuser war. Kurz nach dem typusprägenden Essener Rathausneubau errichtete sich auch das südlich gelegene Werden 1879–80 ein neues Rathaus nach den Plänen von Wilhelm Bovensiepen. Seine heutige Form erhielt es bei der Erweiterung 1912–13 durch das Essener Architekturbüro Großkopf und Kunz. Mit seinen in Formen der deutschen Renaissance gehaltenen Giebeln und Erkern erscheint es als großes Bürgerhaus; der Dachreiter aber verleiht ihm ein eindeutig öffentliches Antlitz. Das Rathaus in Dinslaken entstand durch eine 1913 erfolgte Übernahme des 1896–97 von den staatlichen Baumeistern Hillenkamp und Müller errichteten Amtsgerichtsgebäudes. Der einst für das Amtsgericht errichtete repräsentative neugotische Treppengiebel eignete sich ebenfalls für das Rathaus, das trotz seiner Erhaltung und Nutzung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie seiner markanten Gestalt 1964 abgerissen wurde.

Als Schlossanlage des Frühbarock gibt sich das überraschend repräsentative Rathaus in Wattenscheid (seit 1975 Stadtteil von Bochum), bei dem für die wachsende Industriestadt der Bau von 1838 im Jahr 1884 erweitert wurde und 1896–97 seine einheitliche Fassade von Peter Zindel erhielt. Während es an einer kleinen Seitenstraße gelegen und heute mit einem kleinen Vorplatz ausgestattet ist, wendet sich der 1955–57 Jahren rückwärtig errichtete neue Anbau von Georg Vinzelberg autogerecht mit Kurvenschwung in der Fassade der Hauptverkehrsstraße zu. Zum einen zeigt er sich mit seiner schlichten Rasterfassade als bescheidener Bürobau, zum anderen betonen seine Symmetrie, seine massiven Gebäudeecken und sein einladendes Flugdach über dem zentralen Eingang den öffentlichen Charakter des Hauses.

Zu den markanten Neubauten im Zuge der Industrialisierung der Region und der Entwicklung von neuen Großstädten zählte das Rathaus von Gelsenkirchen am Machensplatz am Rande der Innenstadt. 1891 beschloss der Stadtrat, einen Wettbewerb für ein Rathaus durchzuführen. Trotz der Vergabe von drei Preisen wurde es 1895–97 nach den Plänen eines der Preisrichter, des Kölner Diözesanbaumeisters Heinrich Wiethase, ausgeführt. Mit seinen fialenbekrönten Giebeln nimmt es Formen der norddeutschen Backsteingotik auf und reklamiert für die junge Industriestadt gleichsam eine hanseatische Geschichte. Mit seinem Turm an der Ecke eines asymmetrisch komponierten Baukörpers knüpft es an einen im Kaiserreich weit verbreiteten Typus an, der zuvor ebenfalls schon in Essen verwendet worden war und – wie es eine zeitgenössische Kritik formulierte – »in seiner malerischen Gruppierung ein echtes Rathausbild zeigt.« Obwohl es den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet überstanden hatte und für die Polizei weiter genutzt wurde, wurde es 1970 sang- und klanglos abgerissen.

Bereits 1924–27 hatte sich die Stadt einen Rathaus-Neubau, das Hans-Sachs-Haus, errichten lassen. Der Bau des Essener Architekten Alfred Fischer orientierte sich mit seiner Formensprache an den horizontalen Bänderungen der Neuen Sachlichkeit eines Erich Mendelsohn, gewürzt mit der expressionistischen Materialschwere des Backsteins. Als moderne multifunktionale »Großstadtkiste« vereinigte es zahlreiche private und kommunale Aufgaben von der Verwaltung bis zum Konzertsaal, verzichtete aber mit seinen Dimensionen und dem Merkzeichen des Turms nicht auf großstädtische Repräsentation. Auch dieser Bau wäre beinahe der Abrisswut der Kommune zum Opfer gefallen, konnte jedoch mit einem inneren Totalumbau 2008–13 durch Gerkan Marg & Partner mit seiner Fassade im Stadtbild erhalten werden.

Der Neubau des Rathauses in Hagen 1899–1904 von Hieronymus Nath folgte den Vorbildern von Essen und Gelsenkirchen in Typus und Stil: Eine malerische Komposition an der Blockecke mit hochaufragendem Turm und dominanten Stufengiebeln nimmt mittelalterliche Formen auf und proklamiert für die florierende Industriestadt eine reichsstädtische Tradition. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der teilzerstörte Bau in heterogener Weise 1960–65 nach den Plänen von Wiehl, Roßkotten und Tritthart weitergebaut: Ratssaal und Verwaltung kamen in einer von Stahlrahmen umspannten Kiste und einer Hochhausscheibe unter, der Turm mit angrenzenden Fassadenteilen wurde renoviert und mit einem neuen Abschluss, einer an einen Leuchtturm erinnernden Laterne, versehen. Während die Bauten der 1960er Jahre heute schon wieder verschwunden sind, da sie dem Neubau einer Shopping Mall zum Opfer fielen, hält der Turm als nach wie vor leicht erkennbares Rathaus-Zeichen die Erinnerung an kommunale Würde wach.

In der chronologischen Folge der Rathäuser von Hamborn, Gladbeck und Wetter lässt sich der Erfolg dieses Rathaustyps und seine stilistische Wandlung verfolgen. Alle drei Bauten arbeiten als eigenständige Baukörper mit den Elementen von Turm und Giebel. Beim Hamborner Rathaus, 1902–04 von Robert Neuhaus errichtet, sind mittelalterliche Detailformen einem Renaissancegiebel gewichen, der aber in seiner ornamentreduzierten und flächigen Ausführung weniger historistisch als modern verstanden werden will. Eine aufwendige Detaillierung im neuartigen Jugendstil zeigt dann das Rathaus von Gladbeck1906–10 von Otto Müller-Jena. Es wurde 2004–06 durch einen Erweiterungsbau an Stelle zweier Bürotürme der 1960er Jahre ergänzt, der nicht nur mit seinen Giebeln einen Bezug zum Altbau herstellt, sondern auch durch seine Positionierung einen neuen Rathausplatz ausbildet. Das Rathaus von Wetter von Gustav Werner wiederum folgt 1907–09 der reduzierten Neorenaissance in rustiziertem Ruhrsandstein. Die kontextuelle Anpassungsfähigkeit dieses malerischen Typs zeigt exemplarisch das 1913 eingeweihte Rathaus in Herdecke, bei dem der Architekt Wiehl zwei vorhandene Bauten in der Altstadt zusammenlegte, umbaute und mit einem für die Bauaufgabe mittlerweile als unverzichtbar angesehenen Turm versah.

Eine städtebauliche, typologische und stilistische Besonderheit bildet das ebenfalls von Otto Müller-Jena entworfene Rathaus von Recklinghausen von 1904–08. Auf freiem Gelände neben der mittelalterlichen Stadt vor einem Park gelegen wirkt der Baukörper eher wie eine Schlossanlage. Mit einem symmetrisch im Baukörper sitzenden Mitteltrakt, der durch einen in der Mittelachse aufsitzenden Dachreiter betont wird, ist dieser Eindruck noch verstärkt. Gleichzeitig konterkariert Müller-Jena diese Symmetrie durch die asymmetrische Positionierung und Gestaltung der Giebel. Diese komplexe Komposition oszilliert somit zwischen axialer und malerischer Wirkung. Ähnlich verhält es sich auch mit den aufwendigen Details, die sich aus Renaissance- und Barockformen zu einer jugendstilhaften Organik hin entwickeln. Bei aller baukünstlerischer Originalität bleibt der Bau mit den Elementen Turm und Giebel im zeitgenössischen Kontext gut als Rathausbau erkennbar. In einem von der Landesregierung 2020 veranstalteten Online-Wettbewerb ging dieser gut erhaltene Prachtbau als schönstes Rathaus in Nordrhein-Westfalen hervor.

Ein in seinem urbanen Anspruch markantes Beispiel bildet das Rathaus in Herne mit seinem Rathausplatz. Mit der Eingemeindung neuer Bezirke 1908 bestand für die Stadt Herne die Notwendigkeit zu einem größeren Rathausgebäude. Noch im selben Jahr wurde deshalb ein Wettbewerb ausgeschrieben. Nach längerem Prozedere wurde schließlich 1910 Wilhelm Kreis mit dem Entwurf des Baus beauftragt, der 1912 fertiggestellt wurde. Der Bau von Kreis, der mit seiner Backsteinfront und seinem giebelbekrönten Mittelrisalit an Münsterländer Schlossbauten erinnert, ist vor allem durch den Turm als Rathaus ausgewiesen. Zentral vor ihm war von Beginn an ein Platz als »Marktplatz« (so der ursprüngliche Name) und neues öffentliches Zentrum der Stadt konzipiert, der heutige Friedrich-Ebert-Platz. Die seitlichen Platzwände wurden in der Folge durch weitere öffentliche Bauten geschlossen: Im Süden durch das Amtsgericht 1914–19, im Norden durch das Polizeidienst- und Verwaltungsgebäude 1927–29. Über den stilistischen Wandel vom Neubarock zur monumentalen Sachlichkeit sind alle drei Bauten aber durch die Verwendung von Backstein zu einem Ensemble verbunden; der Platz wiederum erhält durch die hohen Wandanteile der Fassaden trotz des fehlenden, ursprünglich aber geplanten östlichen Platzabschlusses eine geschlossene Wirkung.

In seiner großstädtischen Monumentalwirkung mit den Rathäusern von Schöneberg oder Spandau vergleichbar ist das Rathaus der Stadt Buer (seit 1928 Stadtteil von Gelsenkirchen), das 1910–12 nach den Plänen des Regierungsbaumeisters Josef Peter Heil errichtet wurde. 1909 war ein Wettbewerb vorausgegangen, dessen Ergebnisse aber verworfen worden waren. An einer Blockecke gelegen spart der Baukörper geschickt einen Vorplatz aus, um die architektonische Wirkung des Gebäudes zu steigern. Die Tiefen- und Höhenstaffelung wird bekrönt durch den in der Ecke hinter dem Baukörper aufragenden Rathausturm. Aus dem Jahr 1925 stammt der Entwurf eines Stadt-Forums, das als architektonisch gefasster Platz dem Rathaus vorgelagert werden sollte.

Neben der Stadt in einem Park gelegen weist das 1912–13 von Karl Förster erbaute Rathaus von Datteln alle Merkmale einer Schlossanlage auf. Der zentral aufsitzende Dachreiter mit Uhr vermag die seinerzeit weit verbreitete Ikonographie des Rathausturmes anklingen zu lassen. Mit seinen kolossalen Lisenen und seiner nahezu ornamentfreien Architektursprache entspricht es den Bestrebungen der Reformarchitektur des Deutschen Werkbunds mit einer Orientierung an der Architektur »Um 1800«, wie der Titel eines entsprechenden Buches von Paul Mebes von 1908 lautet.

Ebenfalls dem Typus des Schlossbaus im Stil der Reformarchitektur entsprach das neue Rathaus von Unna, das 1914 durch den Umbau einer Industriellenvilla an der Bahnhofstraße entstand. Heute sieht man von ihm nichts mehr, denn es wurde 1968 nach einem Brand abgerissen. Es ist Teil einer langen Neubau-, Umbau- und Abrissgeschichte der Rathäuser von Unna. Das erste Rathaus stand an der Südseite des Marktplatzes und findet sich in einer Urkunde 1346 erwähnt. An seiner Stelle wurde 1489 für die Hansestadt ein Neubau errichtet, der nach mehreren Umbauten Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen wurde. In der Zwischenzeit hatte sich die Stadt 1829–34 einen Neubau an der Nordseite des Marktplatzes erbaut, der in veränderter Form mit den 1925 eingebauten Arkaden bis heute erhalten blieb. 1986–88 entstand dann ein großer Neubau mit Rathausplatz von Dieter und Ulrike Kälberer.

Aufs engste mit den öffentlichen Räumen der Stadt verknüpft ist das Rathaus von Mülheim an der Ruhr, das die Architekten Arthur Pfeifer und Hans Großmann 1912–15 errichteten. Sie hatten beim 1908 ausgeschriebenen Wettbewerb den dritten Preis erhalten. Sie teilten die Baumasse in einen Kopfbau, der den dreieckigen, mit arkadengeschmückten Bürgerhäusern umstandenen Rathausmarkt dominierte, und einen seitlichen Bau, der entlang der heutigen Friedrich-Ebert-Straße mit einer Ehrenhofanlage und Rathausturm zur Innenstadt hin vermittelte. Diese klassisch konzipierten Rathausplätze waren Teil eines von Pfeifer & Großmann entworfenen Platzgefüges in der Mülheimer Innenstadt, das auch den Landschaftsraum der Ruhr mit der von ihnen entworfenen Stadthalle mit einbezog.

Auch das Rathaus von Bottrop, 1914–16 nach den Plänen von Ludwig Becker errichtet, nutzt die Bauaufgabe des Rathauses, um städtische Plätze zu schaffen.Der Hauptbau des Rathauses mit seinem dahinter aufragenden Turm liegt markant an der Blockecke, tritt jedoch ein Stück zurück, um den Rathausplatz (heute Ernst-Wilczok-Platz) zu formen. Durch einen vorspringenden Flügel ist davon der Droste-Hülshoff-Platz abgetrennt. Beide Plätze zusammen bildeten ein Platzgefüge, ganz wie es Camillo Sitte in seinem Städtebau-Buch gepriesen hatte – heute ist es jedoch durch die tiefergelegte Parkplatzebene am Droste-Hülshoff-Platz gänzlich zerstört.

Rathäuser in der Weimarer Republik

Der Rathausbau in der neuen Republik zeichnete sich durch große Kontinuität zum Kaiserreich aus. Ebenfalls eine Platzecke bildet das Rathaus in Witten von Franz Heinrich Jennen aus. Er hatte beim 1912 veranstalteten Wettbewerb den zweiten Preis errungen. Der Bau wurde erst nach Kriegsende 1921 begonnen und 1926 nach mehrfachen Planüberarbeitungen fertiggestellt. Sein Klassizismus wurzelt in den architektonischen Reformdiskussionen der Vorkriegszeit, zeigt aber zugleich den langen Atem des »Um 1800«-Traditionalismus auch in der Repräsentationsarchitektur der Weimarer Republik. Auch das bereits vorgestellte Bochumer Rathaus war durch einen Wettbewerb in der Kaiserzeit präfiguriert und wurde dann erst in der Weimarer Republik realisiert.

Als Solitär im Park tritt das neue Rathaus in Oberhausen auf, 1927–30 nach den Plänen des Stadtbaumeisters Ludwig Freitag entstanden, nachdem bereits 1910 ein Wettbewerb durchgeführt worden war. Der Modernität der aufstrebenden Industriestadt entsprach die Architektur, die die malerisch-kubische Abstraktion der De Stijl-Bewegung mit dem Backsteinexpressionismus der Amsterdamer Schule verband. Doch auch Oberhausen verzichtete nicht auf einen neuen städtischen Repräsentationsplatz, den Friedensplatz. Zunächst war 1904–07 das Amtsgericht als Monumentalbau mit dominantem Neorenaissancegiebel entstanden. 1924–27 erfolgte dann die Formung des längsrechteckigen Platzes durch die beiden langgestreckten Randbauten des Stadtbaumeisters Ludwig Freitag, die das Polizeipräsidium, die Reichsbank sowie städtische Ämter beherbergten. Die Formensprache des Backsteinexpressionismus schloss harmonisch an die Backsteinrenaissance des Amtsgerichts an. Durch das Motiv der Blendarkaden war den Bauten ein urbanes Motiv mitgegeben, das den öffentlichen Charakter auch architektonisch unterstreichen sollte. Stadtplatz und Rathaus lagen also in Oberhausen nicht bei-, sondern nebeneinander.

Ein ganz besonderes politisches Zentralgebäude des Ruhrgebiets bildet das 1928–29 von Alfred Fischer erbaute Verbandsgebäude des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk (SVR), des heutigen Regionalverbands Ruhr (RVR), in Essen. Wären die Städte des Ruhrgebiets politisch zu einer Kommune zusammengeschlossen worden, wie dies etwa mit der Bildung von Groß-Berlin 1920 geschah, so wäre dies das Rathaus des Ruhrgebiets geworden. Stattdessen war 1920 ein Verband entstanden, der regionale Planungsaufgaben wie übergreifende Verkehrswege und durchgehende Grünzüge verantwortete, den Städten aber ihre kommunale Autonomie beließ. Dies betonte der Verbandsdirektor Philipp Rappaport in dem Büchlein, das zur Eröffnung des Hauses herausgekommen war: »Das Verwaltungsgebäude des Siedlungsverbandes ist also kein Rathaus, ist kein Regierungsgebäude, ist kein Bürogebäude einer großen Industriegruppe oder dgl. Für alle diese Dinge gibt es Typen (…). Das Gebäude durfte nicht einen stadtbeherrschenden Zentralausdruck hervorrufen wie etwa ein Rathaus, es durfte nicht einen repräsentativ-monumentalen Eindruck erwecken wie ein Regierungsgebäude, es durfte nicht die gleichmäßige, zur Beschäftigung von Hunderten ausgewertete Art eines Bürogebäudes tragen. Es galt, hier etwas Eigenes, der neuen Organisation besonders entsprechendes zu schaffen.«

Für Fischer, der kurz zuvor das Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen mit einem Turm errichtet hatte, galt es nun, einem politischen Verwaltungsbau einen angemessenen Ausdruck zu geben, ohne den kommunalen Rathäusern Konkurrenz zu machen. Er erreichte die vor allem durch den Verzicht auf einen prägnanten Turm, der seinerzeit fest zur Ikonographie von Rathausbauten gehörte. Eine gewisse Monumentalität erzielte er gleichwohl durch die Abstaffelung der abgerundeten Baukörper an der Ecke des Gebäudes, an der sich auch der Haupteingang befindet. Diese massiven vertikalen Wandteile geben dem Bau im Kontrast zu den horizontalen Gesimsen der gereihten Fenster eine Würde im Auftreten, ohne dass das Zeichen eines Turmes den Rathäusern der Städte Konkurrenz machen würde.

Rathäuser in der Bundesrepublik Deutschland

Die kontinuierliche Geschichte der repräsentativen Rathausbauten im Ruhrgebiet wurde jäh durch die Herrschaft des Nationalsozialismus unterbrochen. Tatsächlich machte 1933–45 kein monumentales Rathausprojekt dem Führerstaat den Führungsanspruch streitig. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich die Aufgabe des Rathausbaus erneut. Zum einen galt es, zerstörte oder teilzerstörte Bauten zu renovieren oder wiederaufzubauen. Zum anderen stellte sich nach der Diktatur des Nationalsozialismus verstärkt die Aufgabe, der demokratischen Verfasstheit der politischen Gremien einen besonderen Ausdruck zu geben. Traten viele Rathausprojekte der frühen Nachkriegszeit zunächst programmatisch bescheiden auf oder knüpften bewusst an die frühere Tradition des demokratischen Rathauses an, so entwickelten sich im Zuge des Wirtschaftswunders hochfliegende Pläne für Rathäuser, die nicht nur mit neuartigen Formen in neuen Dimensionen einer neuen Zeit Ausdruck verleihen wollten, sondern auch zu einer geradezu von Selbstüberschätzung geprägten Abrisswelle gerade erst renovierter historischer Rathausbauten führte.

Auf den Bastionen am Rande der Altstadt als Endpunkt des Neumarkts liegt das 1951–53 erbaute Rathaus von Moers von Heinrich Hauschild und Rainer Runge. Sein leicht konvex geschwungener Haupttrakt mit den abknickenden Flügeln weist eine landschaftliche, vom Straßenverlauf losgelöste Positionierung auf. Der massive Putzbau mit seinen Walmdächern und seinem markanten Eingangsturm mit Pyramidenhaube zeigt sich jedoch als traditionsbewusster Neubau, der mit einem Element wie dem Turm als konventionelles Rathaus erkennbar sein will. An Stelle eines modernistischen Entwurfs in Beton, Stahl und Glas hatte die Bürgerschaft einen traditionalistischen Bau gewünscht. Explizit forderte der Rat auch einen Rathausturm, über dessen Dachform die Bürgerinnen und Bürger 1952 an Hand von Alternativmodellen abstimmen konnten. Auch das 1955–56 von Wilhelm Seidensticker geplante Rathaus in Waltrop steht zwar zum einen als bescheidene Zeile längs der Hauptstraße mit vorgelagerter Grünfläche an Stelle eines klassischen Rathausplatzes. Mit seiner kolossalen Lisenengliederung deutet es aber zum anderen eine herausgehobene Stellung an – und die Fortsetzung des asymmetrisch positionierten Eingangsrisaliten als Turm mit monumentaler Uhr nimmt leicht erkennbar das eingespielte Motiv des Rathausturmes auf. Ganz ähnlich war man auch beim kurz zuvor realisierten neuen Weseler Rathaus vorgegangen.

Als Bürobau im Grünen gibt sich das 1954–57 von Hein Stappmann und Karl-Heinz Schwirtz errichtete Rathaus in Dorsten. Es mag als Paradigma eines architektonischen und städtebaulichen Funktionalismus genannt sein, bei dem auf auszeichnende architektonische Merkmale ebenso verzichtet wird wie auf eine stadträumliche Anbindung. Auch das 1957 eröffnete Rathaus in Herten vom Architekturbüro Hinderkott und Kamperhoff verzichtet auf signifikante Architekturelemente. Der sich zur Landschaft öffnende mehrflügelige Backsteinbau deutet allenfalls durch seinen schmalen, asymmetrisch positionierten Mittelrisalit über dem Haupteingang sowie seine Uhr eine öffentliche Funktion an, ohne dass sich Anknüpfungen an konventionelle Rathausikonographien finden.

Programmatisch als Neubau wurde das Rathaus von Lünen nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Aus dem 1954 ausgelobten Wettbewerb, dessen Jury u.a. Hans Scharoun angehörte, gingen die jungen Berliner Architekten Werner Rausch und Siegfried Stein als Sieger hervor. Ihr dann auch ausgeführter Entwurf rückte das Rathaus-Hochhaus von der Stadt ab und konzipierte es als Solitär im Grünen. Es sollte keine Ergänzung der bestehenden Stadt in moderner Formensprache sein, sondern ein bewusst gesetzter Kontrapunkt. Damit folgte ihr Entwurf den Vorstellungen von Hans Scharoun, der im Vorfeld des Wettbewerbs gegenüber den Vertretern der Stadt dafür plädiert hatte, im Auslobungstext möglichst keine Baumassenkonzentration festzulegen, sondern auch einen »polaren Bezug« zu ermöglichen.

Die Konzeption für das neue Rathaus war keineswegs funktionalistisch, sondern umfasste auch die repräsentativen Aufgaben eines solchen Baus, was Rausch selbst betonte: »Ein Rathaus ist etwas anderes und mehr als ein Verwaltungsbau. Sinn und Bedeutung der freien Selbstverwaltung unserer Städte sollten ausdrücklich neben die reine Zweckgebundenheit des Hauses treten.« Dieser politisch-gestalterische Anspruch wurde mit einer Reihe dezidierter architektonischer und städtebaulicher Mittel umgesetzt. Da ist zunächst der freie Grundriss, der als formales Pendant zur kommunalen Freiheit verstanden werden kann. Gleichwohl türmt sich der Bau nicht in wilder Freiheit zusammen, sondern in einer Freiheit, die Regeln gehorcht. So sind die einzelnen Nutz- und Verwaltungsräume alle rechtwinklig ausgelegt, wie es ihre praktische Funktionalität erfordert. Diese rechtwinkligen Raumgruppen sind jedoch in einer Weise zusammengeschoben, dass zwischen ihnen schiefwinklige und asymmetrische Räume entstehen, die eine zur Bewegung einladende Spannung erzeugen.

Der asymmetrische Bewegungsraum kulminiert in der zentralen Halle, die nicht nur im gewöhnlichen Sinne das öffentliche Zentrum des Baus bildet, sondern auch den neuen politischen Marktplatz. Da das Gebäude als Solitär in einer Parklandschaft steht, ist der eigentlich zu erwartende öffentliche Platz in das Gebäude hineingenommen. Mit ihrer Zweigeschossigkeit, ihren kolossalen Stützen, ihrem basilikalen Oberlicht und ihrer künstlerischen Ausstattung lässt die Halle Würdeformeln der Baugeschichte anklingen, die durch ihre freie, asymmetrische Anordnung jedoch zugleich auch völlig neuartig wirken und eine ungewöhnliche Monumentalität schaffen. Ganz entgegen dem Diktum eines anspruchslosen Funktionalismus lag genau dies in der Absicht der Architekten, wie es Rausch selbstbewusst verkündete: »Zentral liegt die große Halle, der große repräsentative Raum der Bürgerschaft. Gewiß mögen manche den Begriff ›repräsentativ‹ für hochtrabend halten; doch wir leiden unter der Nivellierung der Begriffe. Beim Bau eines Rathauses lag die Berechtigung vor, solche Akzente zu setzen.«

Auch am Außenbau zeigt sich die aufgabenspezifische Kompositionsweise der Architekten, die jede Standardlösung zu vermeiden suchten. Die Gruppierung der Baukörperteile führt hier zu einer »Plastizität des Baukörpers«, die den Bau markant von jedem gerasterten Scheibenbau unterscheidet. Gleichwohl ist die entstandene Plastizität so individuell und ungewöhnlich, dass der Bau nicht leicht als Rathaus zu erkennen ist. Immerhin, der Eindruck des Besonderen stellt sich unmittelbar ein.

Die politische Dimension des Rathauses wird deutlich in den im Haus angebrachten Worten des Berliner Bürgermeisters Willy Brandt, der bei der Einweihung am 5. Oktober 1960 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Deutschen Städtetages die Festrede hielt: »Dieses Haus muss mehr sein als ein Wahrzeichen und Mittelpunkt einer aufstrebenden Stadt. Es ist eine konkrete Dokumentation, ein Bekenntnis unseres Volkes und Staates zum Aufbau und Fortschritt. Es ist ein Denkmal des Friedens, ein Symbol der Freiheit.«

Diesem ambitionierten Neustart entsprach in Lünen aber zugleich auch der Bruch mit der Stadtgeschichte. Bereits im 19. Jahrhundert war das aus dem 14. Jahrhundert stammende mittelalterliche Rathaus Lünens abgerissen worden und 1847 durch einen Neubau ersetzt wurden. Dieser wurde schließlich 1968, obwohl er nicht einmal unter Kriegszerstörungen gelitten hatte, aus dem Stadtbild gelöscht.

Als Neugründung des 20. Jahrhunderts im nördlichen Ruhrgebiet konnte die Stadt Marl weder an eine eigene Geschichte anknüpfen, noch ihren Modernitätsanspruch als Gegensatz zum Alten inszenieren. Aus einem 1957 ausgeschriebenen internationalen Wettbewerb für das Rathaus von Marl gingen die niederländischen Architekten Johannes Hendrik van den Broek und Jacob Berend Bakema als Sieger hervor. Ihr Entwurf wurde 1960–67 in reduzierter Form umgesetzt, da die Stadt nicht im prognostizierten Umfang weiterwuchs.

Analog zur gegliederten und aufgelockerten Stadt Marl lösten auch van den Broek und Bakema den Rathausbau in mehrere Baukörper auf. Ein flach lagernder Bau mit Vorplatz nimmt repräsentativ die Versammlungsräume auf, während die Verwaltungsräume in vier Hochhäuser verteilt sind, die in asymmetrischer Komposition eine Stadtkrone in der Silhouette der Stadt bilden sollten. Diese Wirkung konnten sie aber nicht erzielen, da nur zwei der Türme errichtet wurden und zudem in nächster Nähe noch höhere Wohnhausscheiben die Blicke verstellten.

Die Übernahme konventioneller Rathausformen – Vorplatz, Saalbau, Turm, Uhr – ist durch die freie Komposition fast unkenntlich gemacht, so dass das Marler Rathaus vor allem durch seine konstruktiven Besonderheiten ins Auge sticht: Der Versammlungstrakt mit dem Ratssaal ist in einem konstruktiven Kraftakt, der sich demonstrativ als Rahmenform zum Platz hin präsentiert, mit einer Beton-Faltkonstruktion in Längsrichtung überspannt; bei den Hochhaustürmen sind die einzelnen Geschosse von einer zentralen Pilzkonstruktion von oben abgehängt, was ebenfalls mit den vertikalen Zügen an den Fassaden ostentativ vorgeführt wird. Damit zeigt sich das Rathaus von Marl als ein Vertreter eines optimistischen Zeitalters der Machbarkeit, in dem unberührt von Vergangenheit auch das statisch scheinbar Unmögliche konstruiert werden konnte.

Zu einem großen Wurf setzte 1966 die Stadt Castrop-Rauxel mit einem internationalen Wettbewerb für ein neues Rathaus an. Dieses sollte als urbanistisch konzipierte neue Mitte die einzelnen Siedlungskerne verbinden und das mit seinen Neorenaissancegiebeln an einer Straßenecke gelegene 1904–05 errichtete ehemalige Amtshaus von Rauxel, das seit 1926 der damals neu gegründeten Stadt Castrop-Rauxel als Rathaus diente, ersetzen. Den Wettbewerb gewannen die dänischen Architekten Arne Jacobsen und Otto Weitling; die Anlage wurde 1970–76 realisiert, nach dem Tod Jacobsens von Otto Weitling und Hans Dissing.

Konzept und Entwurf waren ambitioniert: Die neue Mitte sollte nicht allein durch ein Rathaus, sondern auch durch ein Forum mit weiteren öffentlichen Einrichtungen wie der Stadthalle mit einem Theater und der Europahalle für vielfältige Veranstaltungen gebildet werden. Den nördlichen Rand des Forums bildet das Rathaus, das als 250 Meter langer Riegel, mit backsteinverkleideten kolossalen Pfeilern gegliedert, den Platz abgrenzt. Der Ratssaal ragt als freistehender Baukörper in den Platz hinein und gibt mit seiner abschwingenden Hängedachkonstruktion einen Eindruck von zeltartiger Temporalität. Auch die südliche Kante ist durch einen analogen, etwas kürzeren Riegel gebildet, von dem aus die Stadthalle und die Europahalle ebenfalls mit ihren Hängedächern in den Raum hineinschwingen.

Das Ziel einer Stadtmitte konnte die Anlage aber auf Grund ihrer städtebaulichen und architektonischen Konzeption nicht erreichen. Im Schatten eines Autobahnkreuzes von Autostraßen umgeben ist sie ein typisches Produkt der autogerechten Stadt, indem sie primär für Autos mit einer Zufahrt in die Tiefgarage erreichbar ist. Fußgängern dagegen wird der Zugang geradezu verwehrt: Im Norden grenzt der monumentale Riegel die Verbindung zum bestehenden Wohnquartier ab, an den übrigen Seiten schaffen Brachland und Sportanlagen viel zu große Distanzen zu städtischen Quartieren, um fußläufig überwunden zu werden. Neben der Unerreichbarkeit verhindert die Monofunktionalität dieses Civic Centers ein intensives Stadtleben auf dem Platz. Auch architektonisch ist der Europaplatz nicht als Platz gestaltet: Die Baukörper der Veranstaltungsräume ragen in die Platzfläche hinein und nehmen damit gleichsam dem Platz den Platz weg. Auch ihre architektonische Ausformung erinnert eher an Stadionbauten und hat ihnen den Spitznamen »Skischanzen« eingebracht, womit eher die landschaftlichen als die städtischen Assoziationen überwiegen.

Das Rathaus von Bergkamen wurde im September 1974–76 vom Bergkamener Architekten und Vorsitzenden der SPD-Ratsfraktion Friedrich Karl Schulte errichtet. Verwaltungstrakt und Ratssaal sind in zwei Bauten aufgeteilt, die wie ein Schwimmbad neben einem Bürohaus wirken. Die Absicht, etwas Bedeutungsvolles zu schaffen, ist durchaus spürbar; doch das Spezifische eines Rathauses lässt sich durch die Verweigerung der Nutzung konventioneller Symbole unter dem Diktum des Modernismus nicht erkennen. Erst in den 1980er Jahren kommt beispielsweise mit den Rathausneubauten von Dortmund und Unna ein innenstädtischer Repräsentationsanspruch zurück: Die Rathäuser liegen wieder in der Innenstadt an einem Platz, den sie als Kopfbau prägen, und sind ihrerseits architektonisch als bedeutungstragende öffentliche Bauten ausgezeichnet – Beispiele einer kommunalen Monumentalität.

Schluss

Im Überblick zeigt sich das Ruhrgebiet als überraschend reiche Region von repräsentativen Rathausbauten. Dies ist durchaus naheliegend, ist es doch eine Region, die sich durch eine außerordentlich hohe Städtedichte auszeichnet. Gleichwohl haben wir uns daran gewöhnt, als das Spezifikum des Ruhrgebiets eher die infrastrukturellen Zusammenhänge an Stelle der einzelnen Stadtkerne mit ihren Stadtidentitäten zu sehen. Hier zeigt die lange Geschichte der Rathausbauten, dass zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Mitteln immer wieder versucht wurde, mit Hilfe repräsentativer Rathäuser dem Stellenwert der Kommune – nicht selten in Konkurrenz zu umliegenden Städten – Ausdruck zu verleihen. Kaum ein Rathausbau will nur der praktischen Zweckerfüllung dienen, fast alle wollen zudem den Wert, die Identität und die Selbstbestimmung der Stadt darstellen, also kommunales Monument sein.

Der historische Überblick zeigt auch, dass zu bestimmten Zeiten bestimmte Bautypen und Bauelemente signifikant für den Rathausbau wurden. Mittelalterliche Rathäuser sind geprägt vom im Prinzip zweigeschossigen Baukörper mit markantem Giebel zum Marktplatz, im Erdgeschoss Lauben bzw. Arkaden mit dahinterliegender Halle für Handel und Rechtsprechung, im Obergeschoss ein großer Saal für die Rats- und sonstigen Versammlungen. Das Dortmunder Rathaus – tatsächlich eines der ältesten in Europa überhaupt und bis zu seinem Abriss 1955 das älteste erhaltene Rathaus in Deutschland – zeigte beispielhaft diesen Typ. Eine Variante war die traufständige Anordnung, die eine längere Arkade im Erdgeschoss ermöglichte. Die mittelalterlichen und neuzeitlichen Rathäuser im Ruhrgebiet kamen – bis auf die Ausnahme von Rheinberg – ohne Turm aus und stellten sich somit nicht in Konkurrenz zu den Kirchenbauten.

Der Turm wurde erst zu einem verbreiteten Rathauszeichen durch die Rathausneubauten der Großstädte im Zeitalter der Industrialisierung. Vorbilder waren hier die flämischen Rathäuser mit ihrem oftmals mittig in der Fassade stehenden Turm, wie sie beispielsweise bei den großen Rathausbauvorhaben in Hamburg, Berlin, München und Wien Mitte des 19. Jahrhunderts angewandt wurden. Dieser Bautypus erforderte einen freistehenden Baukörper an einem entsprechend großen Platz. In engerer städtebaulicher Situation entwickelte sich ein zweiter Typ, bei dem die signifikanten Bauelemente Turm, Giebel und Ratssaalfenster in einer asymmetrischen malerischen Komposition an einem Baukörper an der Blockecke zusammenkomponiert wurden. Das Essener Rathaus mit dem Wettbewerb von 1874 war hier typenbildend für die Rathausbauten im Deutschen Reich; auch zahlreiche Rathäuser in den Städten der Region folgten diesem Vorbild, dem am Beispiel des Gelsenkirchener Rathaus »ein echtes Rathausbild« bescheinigt wurde. War für diese Bauten zunächst die Gotik als Verweis auf mittelalterliche Stadttraditionen der bevorzugte Stil, so konnte sich bei Beibehaltung des Typs die Stilwahl über den Jugendstil hin zu einem ornamentreduzierten Reformstil wandeln.

Als weiterer Typ gesellte sich im frühen 20. Jahrhundert ein schlossartiger Baukörper hinzu, beispielhaft im Rathaus von Herne verwirklicht. Der Schlossbau war, wenn es um die Darstellung kommunaler Selbstbestimmung ging, zunächst kein naheliegender Bezugspunkt. Erst die größere historische Distanz, vor allem aber das gestiegene kommunale Selbstbewusstsein größerer Industriestädte ermöglichten es, sich dieses sowohl funktional geeigneten wie auch repräsentativen Bautyps zu bedienen. Zumeist markierte auch dann ein Turmaufsatz sowie die Kombination mit einem Stadtplatz die neue Funktion als Rathaus.

Im Führerstaat des Nationalsozialismus hatten kommunale Selbstverwaltungen wenig zu sagen und folglich auch keinen Anteil am repräsentativen Bauen. Monumentalität war gleichsam für den Staat, die nationalsozialistische Partei und den Führer selbst reserviert. Insofern konnten die neuverfassten Städte des demokratischen Staates nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus an architektonische Zeichen einer repräsentativen Rathausbautradition anknüpfen. In aller Bescheidenheit sind die Rathäuser von Moers, Waltrop und Wesel mit ihren bewusst gesetzten Rathaustürmen dafür ein Beispiel. Der in der Nachkriegszeit ebenfalls zu beobachtende bewusste Verzicht auf jegliche Repräsentation wie etwa in den Rathäusern von Dorsten und Herten als reine Verwaltungsbauten bildet jedoch eine Ausnahme.

Markant sind im Ruhrgebiet die ambitionierten Beispiele der Nachkriegszeit, bei denen durch neuartige Typen, Motive und Konstruktionen eine »neue Monumentalität« intendiert wurde, wie sie Sigfried Giedion als Schweizer Vertreter des internationalen Modernismus bereits 1944 gefordert hatte. In Lünen durch die ungewöhnliche asymmetrisch-organische Komposition eines weithin sichtbaren Hochhauses, in Marl durch freie Komposition einer Stadtkrone in ungewöhnlicher Konstruktionsweise und in Castrop-Rauxel durch die monumentale Gestaltung eines in sich geschlossenen Forums wurden außergewöhnliche Ensembles geschaffen, die lautstark einen kommunalen Repräsentationsanspruch verkünden. Dass sie bis heute nicht wirklich gehört werden, mag an zwei Eigenschaften liegen, die alle drei Projekte teilen: Zum einen sind sie nicht wirklich an innenstädtische Räume angebunden bzw. grenzen sich davon sogar ab; zum anderen verwenden sie keine bekannte, d.h. konventionelle Architektursprache, die sie als Rathaus leichter verständlich machen würde – sie sind quasi Opfer ihres eigenen Innovationsanspruchs geworden.

Der Überblick zeigt, dass Rathausbauten in den Städten des heutigen Ruhrgebiets immer wieder als Repräsentanten städtischer Freiheit, kommunaler Selbstverwaltung und Demokratie sowie städtischen Selbstbewusstseins entworfen und errichtet wurden. Mit diesem Repräsentationsanspruch –dem Anspruch, nicht allein Raum zu bieten, sondern auch zu kommunizieren – waren und sind sie Monumente des Städtischen, der städtischen Kultur wie der städtischen Demokratie. Um diese Kommunikation leisten zu können, braucht die Rathausarchitektur Zeichen, die sie als Rathaus auszeichnen und erkennbar machen. Solche Zeichen können nicht allein die Erfindung von Architektinnen und Architekten sein, sie müssen auch von den Gremien der Stadt gewollt und von den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt verstanden werden können.

Dass dies im Laufe der Zeit unterschiedliche architektonische Elemente als Zeichen sein können, zeigt der historische Überblick. Dass keine Zeichen oder willkürlich neu konzipierte Zeichen aber auch keine Lösung sind, zeigt er ebenfalls. An der Erfolgsgeschichte des Rathausturms lassen sich einige Merkmale für das Funktionieren architektonischer Zeichen erkennen. Zunächst einmal ist er als Turm vorrangig ein Monument, ein Bauelement mit Zeichencharakter: Er bietet keinen Raum für praktische Zwecke, sondern macht große Anstrengungen, allein um weithin sichtbar zu sein. Wird er aber zum auch praktisch nutzbaren Bauteil wie etwa beim Rathaushochhaus, verliert er seine spezifische Kommunikationsmöglichkeit: Essen hat zwar das höchste Rathaus Deutschlands und auch das am weitesten in einer Stadt sichtbare Rathaus – gleichwohl verfehlt es seine Repräsentationsfunktion, da es niemand als ein Rathaus erkennt. Ein weiteres Merkmal des Turms ist, dass er als der Schwerkraft und dem Wind trotzender Bau Solidität und Dauerhaftigkeit aufweisen muss, um überhaupt existieren zu können. Dies prädestiniert ihn, auch für analoge Werte der Stadt einstehen zu können. Höhe und damit verbundene Sichtbarkeit sind weitere Charakteristika seiner Kommunikationsfähigkeit. Diese hängt nicht zuletzt aber auch an der Eingespieltheit dieses Zeichens: Als Rathausturm verfügt er über eine Tradition, die ihn für viele verständlich macht.

Wenn es im Rahmen unserer Untersuchungen von StadtBautenRuhr darum geht herauszufinden, wie mit Gebäuden im städtischen Raum Stadtbilder und Stadtidentitäten geprägt wurden und werden, dann bilden Rathäuser sicherlich die zentrale Bauaufgabe im politischen Bereich der Städte. In keiner Bauaufgabe kulminieren das politische Selbstverständnis und die politischen Ansprüche der Kommune mehr als am Sitz ihrer politischen Entscheidungen, dem Rathaus. Die Repräsentationsfunktion ist dieser Bauaufgabe gleichsam eingeschrieben. Dementsprechend haben die Städte im Ruhrgebiet – trotz zahlreicher geradezu irrwitziger Abrisse – auch eine vielfältige und eindrückliche kommunale demokratische Monumentalität in ihren Rathausbauten verwirklicht.