Tanz auf dem Mühlespiel

Anna Kloke

Die Plandarstellung mit dem Titel »Bauwettbewerb Bürgerhaus« zeigt nicht nur den Grundriss einer im Grünen liegenden Architektur, sondern verrät bereits einiges über die Idee des geplanten Hauses und den Auftrag des Bauherrn. Zu sehen ist eine Raumanordnung, die nicht streng einem orthogonalen Raster folgt, sondern sich von innen heraus wabenartig um eine zentrale Halle entwickelt. Offene Treppenanlagen, eine Faltwand sowie großzügige Verglasungen mit anschließenden Terrassen ermöglichen lange Sichtachsen und öffnen das Haus – nach außen wie nach innen. Raumbeschriftungen lassen auf eine generationenübergreifende, vielfältige und multifunktionale Nutzung schließen – vom Musikstudio zum Altenclubraum, vom Bezirksreferentenbüro zur Open-Air-Tanzfläche auf dem Mühlespielplatz. In Summe erkennt man eine recht individuelle Architektur mit vielfältigem Raumprogramm, die vom Nutzer her gedacht ist und behutsam eine vorhandene Topografie aufnimmt. Die großformatige Nummerierung des Plans und das Fehlen eines Planstempels weisen das Dokument als anonymisierten Beitrag eines Architekturwettbewerbs aus.

Es handelt sich hierbei um den Siegerentwurf zum Bau des Bürgerhauses Oststadt in Essen, das, nach einigen Plananpassungen, 1973–1976 in Mischbauweise aus Beton und Mauerwerk errichtet wurde. Wie eine bauzeitliche Fotografie zeigt, liegt das zweigeschossige Haus in einem Grünzug und zugleich in direkter Nachbarschaft einiger Hochhäuser.

Bauvorhaben Oststadt

Das sogenannte Bergmannsfeld ist Teil des »Bauvorhabens Oststadt«, ein Großsiedlungsprojekt für 15 000 Menschen, mit dem die Stadt Essen auf steigende Bevölkerungszahlen reagierte. Ausgezeichnet mit dem »Deubau-Preis 1966« wurde das Bergmannsfeld seinerzeit noch hoffnungsvoll als »erst im Geburtsstadium befindliches Paradestück« betitelt. Die Punkthochhäuser und bis zu acht-geschossigen Mehrfamilienhäuser wurden 1966–1973 von der Wohnungsbaugenossenschaft »Neue Heimat« in Fertigbauweise erstellt. Die sich horizontal in die Landschaft einfügende organische Architektur des Bürgerhauses bildet hierzu einen bewussten Gegenentwurf.

Einen solchen forderten auch Bewohnerinnen und Bewohner ein, die sich zu einer Bürgerbewegung formierten und auf Plakaten die Oststadt, einst Modell eines sozialen Städtebaus der Zukunft, mit Fäkalausdrücken beschimpften. Mit dem Satz »Aber jetzt kommt die Kultur« brachten sie ihre Hoffnung zum Ausdruck, das angekündigte Bürgerhaus könne als Werkzeug der Stadtreparatur dienen. Lobend erwähnten die Aktivisten, dass im Gegensatz zum Bau der Oststadt hier ein Gutachten beauftragt, ein Wettbewerb ausgeschrieben und viel Geld ausgegeben werde. Die Bedeutung dieses Bürgerprotestes für die Entwicklung des Bürgerhauses zeigt sich in der Tatsache, dass das Plakat im Rahmen eines Portraits der Einrichtung in der Deutschen Bauzeitung im November 1972 abgedruckt wurde.

Studie »Bürgerhäuser in Essen«

Tatsächlich sah auch die Stadt Essen selbst bereits vor Baubeginn im Sonderausschuss für das Stadterweiterungsgebiet Oststadt die »Notwendigkeit, in den neuen Nachbarschaften geeignete Einrichtungen als Stätten der Begegnung zu schaffen«, und so den Mangel an gewachsener, sozialer Infrastruktur auszugleichen. Die Stadt betrat Neuland und beauftragte das »Sozialpädagogische Seminar Dortmund« mit der Studie »Bürgerhäuser in Essen«.

Gleich im Vorwort würdigten die Autoren diesen Mut der Stadt Essen: »Zum ersten Male sind Rat und Verwaltung einer deutschen Großstadt willens, in ihren städtebaulichen Vorhaben auch den sozialen Sachverstand gebührend wirken zu lassen; zum ersten Mal engagiert sich eine deutsche Sozialschule, also eine Stätte der Theorie und der Bildung, derart konkret und verbindlich für die Gestaltung der sozialen Praxis.«

»Prinzip Offenheit«

Das Haus sollte nach dem »Prinzip Offenheit« gestaltet werden: offen für verschiedene Nutzungen, offen für Mitgestaltung und offen für verschiedene soziale Gruppierungen wie auch für individuelle Interessen. Auf Grundlage der Dortmunder Studie lobte die Stadt Essen 1969 einen Wettbewerb aus, den der Scharoun-Schüler Friedrich Mebes (1927–2017) für sich entscheiden konnte. Zu Lebzeiten vermachte er seinen beruflichen Nachlass dem Baukunstarchiv NRW. Darunter die oben erwähnte Deutsche Bauzeitung, wie auch eine von Mebes archivierte Ausgabe der Zeitschrift Bauwelt zum Thema Treffpunkte von 1978, in der ebenfalls das Essener Bürgerhaus vorgestellt wird. Das Titelblatt zeugt vom Zeitgeist der Bauaufgabe und verbildlicht deren Eigenart: Zu sehen sind scheinbar wahllos aufgestellte Klappstühle, auf denen jüngere Menschen locker gruppiert zusammensitzen und kommunizieren. Auf Stühle hochgelegte Füße und verstreut auf dem Boden liegende Papierknöllchen vermitteln einen Eindruck von Ungezwungenheit. Tatsächlich sollte das Bürgerhaus, so das Credo der Studie, durch eine Funktionsverflechtung der Bereiche Freizeit, Kultur und Bildung unterschiedliche Alters- und Sozialgruppen ansprechen und niederschwellig durch gemeinschaftlich genutzte Flächen informelle Begegnungen fördern.

Baubeschreibung

Als ein solches Forum funktioniert die Halle des Bürgerhauses Oststadt, die, wie auf dem archivierten Foto zu sehen, dem »Prinzip Offenheit« folgt: Mit ihrem offenen Treppenhaus verbindet sie die Etagen und lässt als zentraler Verteilerpunkt (#Ideen für das Museumszentrum) Menschen, die aufgrund des vielfältigen Nutzungsangebotes verschiedensten Sozialgruppen angehören, einander begegnen. Durch eine Aufweitung der Verkehrsflächen schuf Mebes hier einen öffentlichen Raum in Innern. Diesen Eindruck verstärkte er durch die Weiterführung der Schiefer- wie auch der Ziegelfassade im Haus. Zudem wurde das Klinkerpflaster durch Klinkerfliesen innen optisch wieder aufgenommen und trägt zu einer Art »Marktplatzgefühl« bei. Auch die roten Lackierungen der Gitter und Geländer sind innen wie außen zu finden und leiten den Besucher ins Haus. Konstruktive Elemente wie Stützen und Binder zeigen Schalungsabdrücke und heben sich mit ihrem weißen Anstrich von den rot-braunen Ziegelwänden ab. Neben Schiefer und Ziegel bestimmt auch die Verwendung von Holz als natürlichem Material den Raumeindruck, wie für Bauwerke der sogenannten organischen Architektur typisch. So bewertet ein Gutachten von 2019 das Haus auch als »herausragendes Beispiel des maßgeblich durch die Architektur von Hans Scharoun geprägten ›organischen Expressionismus‹«. Dieser zeigt sich in einer typischen Vermeidung des rechten Winkels, dem Formenspiel mit Ziegeln sowie in der dynamisch wirkenden Deckengestaltung.

Die teils geneigten oder gewölbten Decken unterschiedlicher Höhe sind mit einer Holzlattung versehen, deren Richtung spannungsreich wechselt. In unregelmäßigen Abständen waren eigens für das Haus entworfene längliche Deckenleuchten in das Muster eingefügt, die im Laufe der Zeit jedoch durch runde Einbauleuchten ersetzt wurden. Durch die Wärme des Holzes und die Ausbildung verschiedener Raumnischen im Eingangsbereich sollte der Bau Behaglichkeit vermitteln und einladend wirken, um Schwellenängste abzubauen. Auch die Spazierwege des Tals wurden in das Freiflächen- und Wegesystem des Hauses aufgenommen und tragen zur »Offenheit« des Hauses bei. Eine wallartige Geländeausbildung am Lesegarten und an den Spielplätzen sollte hingegen für die Nutzer eine »Geste der Abschirmung, der Zurückgezogenheit schaffen«, so Mebes in einem Erläuterungsbericht von 1971. Das teilweise Eingraben in die Topografie und der Versatz der Gebäudevolumina führt, wie die sich seitlich am Haus entlang schleichenden, abgeknickten Freitreppen zum Haupteingang, zu einer bewussten Vermeidung jedweder Imposanz.

»Nicht denkmalhaftes« Denkmal

Mebes selbst bezeichnete sein Werk als »nicht denkmalhafte Architektur […] in bewusstem Anderssein verschieden von den blockhaften Bauten der angrenzenden Wohnquartiere«. Tatsächlich steht das Bürgerhaus seit 2019 doch unter Denkmalschutz – aus künstlerischen, architekturgeschichtlichen und städtebaulichen Gründen. So ist das Gebäude mit eigens ausgewiesenen Kinderwagenstellplätzen nicht nur nach sozialer Zweckmäßigkeit durchdacht, sondern wartet auch mit sorgsam gestalteten Details und einer insgesamt spannungsreichen Architektur auf – in Abgrenzung, aber zugleich im Dialog zum Ort.

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in: Hans-Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): »Und so etwas steht in Gelsenkirchen…«, Kultur@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund 2020, S. 266–279.